„Der Prinz und die Schwalbe“ - eine Geschichte über Abhängigkeit in der Partnerschaft
Mit dieser Geschichte, die von Mar Pastor stammt und von der Rolle der Liebe und der Abhängigkeit in der Partnerschaft erzählt, möchte ich dich dazu einladen, darüber nachzudenken, was eine unsichere Liebe mit uns macht, wie sie uns Leid bereitet, und wie es uns verletzt, wenn wir unseren Partner kontrollieren und dominieren wollen und als Ausrede dafür die Liebe anführen.
Überlegen wir uns doch einmal, welche Unterschiede es zwischen Liebe und Abhängigkeit gibt. Wieso verwechseln wir beide miteinander? Wie kann eine abhängige Liebe unsere Beziehung negativ beeinflussen?
„Wenn wir an etwas hängen, empfinden wir auch Angst. Wir haben Angst davor, diese Sache zu verlieren. Dieses Gefühl von Unsicherheit wird uns stets begleiten.“
Jiddu Krishnamurti
Der Prinz und die Schwalbe
Der Prinz verbrachte seine Tage damit, aus dem Fenster zu schauen und darauf zu warten, dass etwas passierte. Er hatte nur einen Bediensteten an seiner Seite, der sich um den Einkauf kümmerte und das Schloss sauber hielt. „Was für ein langweiliges Leben“, seufzte er.
An einem Morgen im April setzte sich eine Schwalbe auf seine Fensterbank. „Oh“, rief er, „was für ein goldiges und kleines Wesen!“ Die Schwalbe sang ihm ein kleines Ständchen und flog fort. Er war ganz begeistert von ihr. Ihr Gesang war für ihn das Schönste auf der Welt und ihr Federkleid machte ihn sprachlos. Ein wirklich einzigartiges Geschöpf!
Seit diesem Tag konnte der Prinz die Rückkehr der kleinen Schwalbe gar nicht erwarten. Eines Tages war es dann soweit und die Schwalbe kam wieder an sein Fenster und sang für ihn ein anderes Lied. Er fühlte sich so glücklich. „Ob ihr wohl kalt ist?“, fragte er sich, kurz bevor sie wieder wegfliegen wollte.
Als der Vogel das dritte Mal zu ihm kam, machte sich der Prinz Sorgen darüber, ob er Hunger haben möge. In den darauffolgenden Tagen baute er ein kleines Häuschen für die Schwalbe. Er schickte dafür seinen Bediensteten los, um Holz und Nägel zu kaufen und um Insekten zu fangen. Nach mehreren holprigen Versuchen, befahl er ihm schließlich, dass dieser das Haus auch bauen solle. „Verfluchter Vogel“, säuselte der Bedienstete und machte sich an die Arbeit.
Ins Häuschen legte der Prinz die Insekten und stellte Wasser bereit, sowie ein bisschen Seide, die als Bett für den Vogel dienen sollte. Als er sah, wie er es sich erneut auf der Fensterbank bequem machte, stellte er das eigens für die Schwalbe gebaute Haus darauf und erfreute sich daran, zu beobachten, wie sie Wasser trank und das für sie vorbereitete Essen verspeiste. „Magst du diese Insekten, meine süße Schwalbe?“, fragte er sie. „Ich habe sie für dich gefangen“, fügte er hinzu. Mit einem Zwitschern antwortete ihm die Schwalbe, bevor sie wieder aufbrach.
Der Prinz muss mit der Unsicherheit leben
Dann überkam ihn die Angst. Und was, wenn sie niemals wieder zurückkehren wird? Und was, wenn sie einen besseren Unterschlupf finden wird? Andere Prinzen würden ihr vielleicht ein schöneres Vogelhäuschen bauen oder tatsächlich selbst Insekten fangen. Das konnte er nicht zulassen. Auf der ganzen Welt gab es keine Schwalbe wie diese! Der Prinz konnte zwei Tage lang nicht schlafen und an nichts anderes denken, bis er sich dazu entschloss, seine Wartezeit damit zu überbrücken, eine Tür mit einem Vorhängeschloss für das kleine Häuschen zu bauen.
Schließlich kam die Schwalbe zurück und als sie in das Vogelhäuschen ging, um das Essen zu probieren, schloss der Prinz sie ein. „Ich liebe dich“, schwor er, „bei mir wird es dir nie mehr an Essen oder Wasser fehlen und du wirst niemals mehr frieren müssen.“ Die Schwalbe war zunächst ein wenig verwirrt, machte es sich dann aber bequem. Sie erfreute sich an ihrem warmen Zuhause und an dem vielen Essen, ohne selbst auf die Jagd gehen zu müssen.
Der Prinz stellte den Käfig auf seinen Nachttisch, um die Schwalbe jeden Morgen mit einem Streicheln über den Kopf zu begrüßen. „Du bist meine Schwalbe, singe mir ein schönes Lied“, bat er sie. „Dieses Leben ist gar nicht so schlecht“, dachte die Schwalbe dann, und sang. Aber mit der Zeit verstummte sie, bis sie irgendwann keinen Laut mehr von sich gab.
Die Schwalbe verstummte
„Wieso singst du nicht mehr?“, fragte sie der Prinz ganz verwundert, „du hast mich glücklich gemacht, als du gesungen hast.“ „Mein Gesang wurde vom fließenden Wasser , vom Geräusch des Windes in den Bäumen und dem Licht des sich auf den Bergfelsen widerspiegelnden Mondes inspiriert. Voller Freude überbrachte ich dir das, aber in diesem Käfig finde ich nichts, worüber ich singen könnte“, antwortete sie ihm.
„Ich halte dich in diesem Käfig, weil ich dich liebe“, entgegnete der Prinz. „Es ist gefährlich, dass du allein draußen herumfliegst. Und was, wenn dir etwas passiert? Du kein Essen findest oder dich ein Jäger erschießt?“ „Was ist ein Jäger?“, wollte die Schwalbe daraufhin wissen. Der Prinz versicherte ihr nur mehr: „Ich kümmere mich um dich und beschütze dich, hier bist du außer Gefahr.“
Eines Tages stand der Prinz auf und war entsetzt. Er wollte die Schwalbe streicheln und fand sie tot im Käfig vor. Wutentbrannt suchte er seinen Bediensteten und feuerte ihn, weil er sich sicher war, dass eines der Insekten, die dieser gefangen hatte, die Schwalbe umgebracht hatte. Die Tatsache, dass er einen Schuldigen gefunden hatte, besänftigte den Prinzen jedoch nicht, der sich nur noch einsamer und wertloser als vorher, bevor die Schwalbe in sein Leben kam, fühlte.
Das blieb so lange so, bis sich eine andere auf seine Fensterbank setzte und ihm ein Lied trällerte. Es war das schönste Lied, das er je gehört hatte.
Häuser mit Vorhängeschlössern, die der Liebe ein Ende bereiten
Diese Erzählung gibt Aufschluss darüber, wie die Liebe und Abhängigkeit in einer Partnerschaft funktionieren, und zeigt uns, wie unsere Ängste und Befürchtungen oftmals den Wünschen und Rechten des anderen einen Riegel vorsetzen. Die Geschichte steckt voller Wahrheit: Wenn wir Menschen, die wir kennen, verändern, sind wir, ohne dass wir es bemerken, dafür verantwortlich, dass sie sich von ihrem Wesen und ihrem Glück entfernen.
Hinsichtlich einer Situation, in der wir uns einsam oder leer fühlen, können wir entweder selbst die Verantwortung übernehmen, um dieser zu entkommen, oder aber wir bürden sie unserem Partner auf, indem wir eine Beziehung voller Abhängigkeit erschaffen.
Die Liebe zu einem Menschen kann uns in dem Maß verwirren, dass wir von diesem geliebten Menschen zu viel verlangen und wir ihn in unseren Augen zu einem einzigartigen und unersetzlichen Geschöpf machen, was die Angst, wenn wir uns vorstellen, ihn möglicherweise zu verlieren, noch verstärkt. Wir berauben den anderen seiner Freiheit, wenn wir es als Ausrede benutzen, ihn beschützen oder für sein Wohl sorgen zu wollen.
Diese Geschichte erzählt uns etwas über Abhängigkeit in der Beziehung, aber über Liebe, Respekt und Toleranz in der Partnerschaft . Zu lieben, bedeutet, die Art des anderen zu akzeptieren, sein Glück über die Befriedigung unserer Bedürfnisse zu stellen und ihn fliegen zu lassen, wenn er es braucht, wenn es – wie bei der Schwalbe – das ist, was ihn glücklich macht.