Das kindliche Gehirn verstehen: das Organ des Lernens

Die Art und Weise, wie sich das Gehirn eines Kindes entwickelt, reift und lernt, wird stark von den Erfahrungen des Kindes beeinflusst. Dabei spielen Erwachsene, die ihm am nächsten stehen, eine wichtige Rolle.
Das kindliche Gehirn verstehen: das Organ des Lernens
Lidia Blockus

Geprüft und freigegeben von Werbetexterin Lidia Blockus.

Geschrieben von Redaktionsteam

Letzte Aktualisierung: 08. September 2022

Im Gegensatz zu dem, was man bis vor kurzem dachte, ist das Gehirn formbar. Es verändert sich als Reaktion auf jede Erfahrung, jeden neuen Gedanken und jedes neue Lernen. Das bedeutet, dass unser Gehirn Erfahrungen in Form von neuronalen Verbindungen aufzeichnet. Das nennt man Neuroplastizität. Das kindliche Gehirn reagiert also empfindlich auf Umweltfaktoren, die seine Struktur und Funktion beeinflussen. 

Es ist wichtig, sich dieser Tatsache bewusst zu sein, um die Neuroplastizität zu nutzen und dem kindlichen Gehirn optimale Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten.

Das dreieinige Gehirn

Das Gehirn ist ein Organ, welches uns das Lernen im täglichen Leben ermöglicht. Wenn du verstehst, wie es funktioniert, weißt du, warum sich Kinder auf eine bestimmte Weise verhalten und warum sie auf die eine oder andere Art auf Reize reagieren.

Dieses geheimnisvolle und faszinierende Organ kann in drei Teilbereiche unterteilt werden. Dies erleichtert uns das Verständnis darüber, wie es die Informationen von außen verarbeitet und darauf reagiert:

  • Das intuitive oder primäre Gehirn: Es macht 5 % der Kapazität des Gehirns aus und ist von Geburt an aktiv. Diese Struktur löst automatische und instinktive Reaktionen aus. Die Neuronen, aus denen sie besteht, lernen nicht – sie reagieren.
  • Das emotionale oder sekundäre Gehirn: Es macht 15 % der Kapazität des Gehirns aus. Hier werden Emotionen, Erinnerungen und Lernprozesse gespeichert. Es ist das dominante Gehirn in der Kindheit und Jugend. Wir können also sagen, dass Emotionen eine wichtige Rolle beim Lernen in diesen Entwicklungsphasen spielen.
  • Das kognitive oder höhere Gehirn: Es macht 80 % der Gehirnkapazität aus und ist bis zum Alter von 25 Jahren voll entwickelt. Hier sind die exekutiven Funktionen angesiedelt. Neuronale Netze integrieren das Lernen so, dass es zu einem Speicher von Informationen wird, die dann genutzt werden können.

Das Verständnis dieses aufsteigenden Kreislaufs ist der Ausgangspunkt, um nachzuvollziehen, wie das kindliche Gehirn auf einen äußeren Reiz reagiert. Dabei ist auch das Phänomen der Neuroplastizität zu beachten.

Außerdem spielen Erwachsene für die kognitive Reifung des kindlichen Gehirns eine wichtige Rolle. Die Eltern oder Bezugspersonen können die Entwicklung begleiten und fördern.

Neuroplastizität des Gehirns

Jede Erfahrung und jeder Umweltfaktor, kann im Gehirn des Kindes einen Abdruck in Form eines neuronalen Netzwerks hinterlassen. Dieser Prozess wird als positive Neuroplastizität bezeichnet.

Einerseits führt jede Erfahrung, die im Laufe der Zeit wiederholt wird, zu einer Stärkung dieses Netzwerks, wodurch ein automatisches Verhaltensmuster entsteht. Andererseits wird jedes neuronale Netzwerk, das im Laufe der Zeit nicht genutzt wird, schließlich geschwächt oder sogar ausgelöscht. Dieser Prozess wird als negative Neuroplastizität bezeichnet. Wir können daher behaupten, dass die Neuroplastizität die Grundlage des Lernens ist.

Die erwachsene Bezugsperson für Kinder (Eltern, Verwandte, Lehrer…) ist der Schöpfer der neuronalen Netzwerke im Gehirn des Kindes. Deshalb besteht Erziehung darin, wertvolle Verbindungen zwischen Neuronen zu schaffen. Neuronale Verbindungen, die für das Kind ungünstig sind, gilt es hingegen zu vermeiden und unangemessene Verbindungen zu beseitigen.

Einige der Umweltfaktoren, die wir als Eltern oder Erzieher berücksichtigen müssen, sind Nachahmung, affektive Bindung, Sprache und Erwartungen.

das kindliche Gehirn
Die Verbindung zwischen den Neuronen im kindlichen Gehirn begünstigt das Lernen.

Die Anfälligkeit des Gehirns für äußere Reize

Neuroplastizität erklärt das Potenzial von Erfahrungen, die durch die Bildung neuer neuronaler Verbindungen Veränderungen in unserem Gehirn bewirken. Es gibt zwei Schlüsselmomente in der Entwicklung: die ersten 6-8 Lebensjahre und die Pubertät.

In den ersten 6-8 Lebensjahren steigt die Anzahl der Synapsen deutlich an. Das erklärt die besondere Durchlässigkeit und Anfälligkeit des kindlichen Gehirns für Umwelteinflüsse. Welchen Reizen (Fernsehen, Videospiele…) sind Kinder in diesem Alter ausgesetzt? Welche neuronalen Bahnen werden angelegt? Wofür sind Erzieher (Lehrer, Eltern, Verwandte, Ärzte) verantwortlich?

In der Pubertät kommt es zu einem Abbau der neuronalen Verbindungen, die bis dahin weniger stimuliert wurden. Die Synapsen, die aufgrund der gelebten Erfahrungen häufig aktiviert wurden, bleiben in der Regel erhalten, während diejenigen, die nicht ausreichend genutzt wurden, verschwinden. Dies ist ein idealer Zeitpunkt, um die Löschung von nicht hilfreichen neuronalen Netzwerken zu fördern.

Was passiert mit nutzlosen mentalen Verbindungen?

Es ist möglich, nutzlose mentale Verbindungen zu reduzieren oder zu eliminieren. Allerdings erfordert dies eine bewusste und ausdauernde Arbeit, um das bereits bestehende neuronale Netzwerk zu schwächen und einen alternativen neuronalen Schaltkreis zu rekonstruieren und zu konsolidieren. Wenn dieser neue Kreislauf nicht durch wiederholte Stimulation gefestigt wird, kehrt die Person zum Funktionieren des bereits aufgebauten Kreislaufs zurück.

Der Neuropsychologe Álvaro Bilbao vergleicht die Veränderungen im kindlichen Gehirn mit dem Prozess der Eröffnung eines neuen Weges im Gras:

“Der Moment, in dem das Kind seinen alten Weg verlässt, ist entscheidend, auch wenn es den neuen Weg danach viele Male gehen muss, um ihn gut im Gras zu markieren.”

Die Rolle der Erwachsenen: Lernen durch Nachahmung

Wie beeinflussen Erwachsene, die Kinder erziehen, deren Gehirnentwicklung und die Bildung neuronaler Netzwerke? Ein Großteil des Lernens findet durch Beobachtung und Nachahmung statt. An diesem Punkt wird die nonverbale Kommunikation (Gesten, Haltung…) zum Protagonisten. Wenn verbale und nonverbale Sprache nicht übereinstimmen, glaubt das kindliche Gehirn dem nonverbalen Verhalten.

Das Gehirn verfügt über einen Kreislauf von Neuronen, die “Spiegelneuronen” genannt werden und die Grundlage für die automatische Neigung zur Nachahmung sind, die den Menschen auszeichnet. Sie wurden 1991 von der Forschergruppe um Giacomo Rizzolatti entdeckt, als sie die Gehirne von Makaken-Affen untersuchten. Wenn ein Kind also sieht, wie sein Vater wütend wird, stellt sich sein Gehirn vor, genauso wütend zu sein. Dadurch werden die gleichen neuronalen Netze aktiviert.

Erzieher müssen zu einer gültigen Referenz werden, die es dem Kind ermöglicht, durch Beobachtung angemessenes Verhalten zu erlernen. Sie müssen deshalb in den Spiegel der Selbsterkenntnis schauen, um die beste Version von sich selbst zu werden und gute Vorbilder zu sein.

Die Macht der Worte

Worte hinterlassen Spuren im Gehirn des Kindes. Jedes Mal, wenn wir zu einem Kind einen Satz sagen, der mit “du bist” beginnt, speichert das kindliche Gehirn diese Daten im Hippocampus.

Alle diese Botschaften, sowohl positive (“du bist mutig”) als auch negative (“du bist faul”), die das Kind definieren, werden in diesem Speicher festgehalten und bilden das “Selbstkonzept”. Das Kind ist dann gezwungen, im Leben nach diesen Informationen zu handeln. Sie verwandeln sich in eine schwere Last, die unbewusst viele Verhaltensweisen des Kindes steuert.

Schlüssel für eine gesunde Gehirnentwicklung

Um das kindliche Gehirn vor schädlichen Wörtern zu schützen, kannst du folgende Regeln berücksichtigen:

  • Beziehe dich auf das Verhalten, nicht auf das Kind: Vermeide Ausdrücke wie “du bist” und verwende stattdessen “du tust” oder “du hast”.
  • Vermeide die Wörter “immer” oder “nie”: Sie bieten keine Möglichkeit, etwas zu ändern.
  • Vergleiche sind verboten: Durch Vergleiche formen Kinder ihr “Selbstkonzept” in Bezug auf andere und verlieren so ihre einzigartige Identität. Es geht nicht darum, besser zu sein als andere, sondern darum, die beste Version von sich selbst zu werden.
  • Fehler sollten als Chance verstanden werden und nicht als Versagen: Wir lernen aus Fehlern. Kinder müssen scheitern und lernen, Misserfolge in Motivation zum Weitermachen umzuwandeln. Bestrafe niemals Fehler! Ermutige stattdessen zum Lernen.
  • Viele Kommentare sind mit Schuldgefühlen belastet: Das Wort Schuld bringt uns in eine unangenehme Lage, die nicht zu Veränderungen einlädt, sondern zu Ressentiments. Verantwortung hingegen treibt uns voran, sie ist eine motivierende Kraft. Das Kind muss sich für seine Handlungen und deren Folgen verantwortlich und nicht schuldig fühlen.
Mutter mit Tochter
Es ist wichtig, offene, ehrliche und vertraute Gespräche mit unseren Kindern zu führen.

Die Macht der Erwartungen: der Pygmalion-Effekt

Der Pygmalion-Effekt beschreibt, wie die Erwartungen eines Erziehers an ein Kind dessen Verhalten beeinflussen können. Diese Erwartungen werden zur Realität. Die Vorstellung, welche die Bezugsperson von einem Kind hat, üben einen entscheidenden Einfluss auf die Vorstellung des Kindes aus.

Die Rolle der Vorbilder besteht darin, zu den Leistungserwartungen der Kinder beizutragen. Dies gelingt am besten, indem sie Vertrauen vermitteln, die Anstrengung und nicht nur das Ergebnis anerkennen und lehren, dass Fehler Teil des Lernprozesses sind.

Kurz gesagt, die Neuroplastizität verändert die Bedeutung des Begriffs “erziehen”. Obwohl es eine genetische Konditionierung gibt, ermöglicht die Neuroplastizität den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Struktur und Funktion des Gehirns.

Diese Konfigurierbarkeit hat direkte Auswirkungen auf die Bildung. Was immer wir Kindern beibringen, prägt sich in das kindliche Gehirn in Form eines Clusters miteinander verbundener Neuronen ein. Wenn Sie diese neuronalen Netze durch die Wiederholung des Reizes verstärken, bilden diese automatische Verhaltensmuster.

Deshalb besteht die Erziehung darin, wertvolle Verbindungen zwischen Neuronen zu schaffen. Die Bildung von neuronalen Verbindungen, die für die Entwicklung des Kindes nicht günstig sind, gilt es hingegen zu verhindern. Ebenso sollten unangemessene oder nutzlose Verbindungen, die bereits entstanden sind, beseitigt werden. Es geht also darum, die Plastizität des Gehirns zu nutzen, um das Gehirn zu perfektionieren und glücklicher zu werden.

“Egal ob du glaubst, dass du etwas kannst oder es nicht kannst, du hast Recht.”

Henry Ford


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  • Bilbao A. (2015). El cerebro del niño explicado a los padres. Barcelona: Plataforma Actual.

  • Gardner, H. (1998). Inteligencias múltiplesBarcelona: Paidós.

  • Goleman, D. (1996). Inteligencia emocional. Buenos Aires: Vergara S. A.

  • Ibarrola, B. (2013). Aprendizaje emocionante. Neurociencia para el aula. Madrid: SM.


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