Umarme die dunkle Seite deiner Seele
Kann man die dunkle Seite der eigenen Seele kennenlernen? Wenn ja, wie? Am besten funktioniert es, wenn man sich zunächst einen ruhigen Ort sucht. Dort kann man den Lärm der Umgebung ausblenden und die noch anstehenden Aufgaben vergessen. Diese klagende und manchmal fordernde Stimme im Kopf soll nach und nach immer leiser werden, bis sie schließlich ganz verstummt. Dafür lohnt es sich, einmal zu versuchen, sich auf die absolute Stille einzulassen. Dies mag zu Beginn ein wenig merkwürdig erscheinen, wird ihre Wirkung doch häufig unterschätzt. Wer ihren wahren Wert aber erkennt, kann einen wirklichen Nutzen aus ihr ziehen.
Vielleicht denkt man zunächst, dass es unmöglich sei, etwas wahrzunehmen, wenn der Gesprächspartner komplett still sei, aber es ist durchaus einen Versuch wert. Die Stille dient zuweilen als Brücke, die einen Menschen mit seinem Inneren verbinden kann. Vielleicht fürchtet man sich zunächst vor ihr, doch es lohnt sich, ihr eine Chance zu geben.
Es ist überhaupt nicht verwerflich, wenn man sich selbst im Spiegel betrachtet, seine Haut und die Wunden berührt, an die man sich am liebsten nicht erinnern möchte. Man braucht seinen Blick nicht abwenden oder seine Augen davor zu verschließen, sind sie doch ein Teil von einem selbst. Vielmehr sollte man die dunkle Seite der eigenen Seele umarmen und sich mit ihr verbinden.
Die Dunkelheit der Wunden
Wunden haben auch ihre Schattenseiten, jenen gefährlichen Bereich, in dem wir uns dem Leiden zuwenden.
Das eigene Leiden in Form seiner Wunden zu betrachten, ist keine angenehme Erfahrung. Die Geister, die durch diese Erinnerungen geweckt werden, können einschüchternd wirken und einem manchmal sogar Angst einjagen. Sie wissen ganz genau um die Unsicherheiten eines Menschen und kennen die dunklen Wege, die zu den Ursachen führen, die tief in ihm verborgen liegen.
Diese Geister sind die Spuren der Vergangenheit eines jeden Menschen. Gleichzeitig sind sie wie Anker. Sie lassen einen nicht von dem erlebten Schmerz ablassen; vielmehr nähren sie sich von ihm. Auf diese Weise erinnern sie einen daran, dass das Erlebte noch nicht überwunden und immer noch präsent ist. Hindert man sie nicht daran, so werden sie zu jenen Monstern, vor denen man sich fürchtet. Damit ist die Furcht vor Ablehnung, vor dem Alleinsein oder dem Versagen gemeint.
Auch Wunden haben ihre dunkle Seite, von der nur die Traurigkeit, der Schmerz und die Enttäuschung sichtbar sind. Man kann in diesem gefährlichen Bereich eingesperrt werden und nicht mehr wissen, wie man seinem Leiden entkommen soll. Es ist wie ein feines Netz, das einen nicht mehr weiterkommen lässt.
Es ist nicht leicht, die Splitter der Vergangenheit zu entfernen, besonders, wenn sie tief in der Haut stecken. Der Schmerz hat ganz unterschiedliche Möglichkeiten, um auf sich aufmerksam zu machen. Selbst wenn man glaubt, man sei befreit von seiner Strafe, ist dies möglicherweise nicht der Fall, insbesondere wenn man es vermeidet, sich ihr zu stellen.
Seelischer Schmerz kann sich zudem auf den Körper auswirken. Der australische Professor David Alexander erklärt dazu: “Menschen, die eine emotionale Verletzung erlitten haben, übersetzen diesen Schmerz oft in etwas Physisches.”
Aus diesem Grund sollte man die dunkle Seite der eigenen Seele, ihre Wunden und ihren Einfluss auf das Sein nicht vernachlässigen. Schließlich beeinflussen sie einen auf eine so geschickte Weise, dass sich der Blick auf die Realität verändert. Ohne es zu merken, findet man sich schließlich in einer Spirale unendlichen Leids wieder.
“Es gibt keine Narbe, so brutal es auch erscheinen mag, die nicht auch Schönheit bedeute. Jede Narbe erzählt eine Geschichte, beschreibt einen Schmerz. Aber auch von sein Ende. Narben sind die Nähte der Erinnerung, etwas Unvollkommenes, das uns heilt, während es uns schadet. Die Art, die diese Zeit findet, damit wir die Wunden nie vergessen.”
Marwan
Die dunkle Seite der eigenen Seele birgt auch Hoffnung
So wie die dunkle Seite der Seele eines Menschen seine Existenz zerstören kann, enthält sie doch auch die nötige Energie, um über sich hinauszuwachsen. Ein Widerspruch in sich? Das mag schon sein, doch so ist die Realität. Der Ozean des Leides ist weit. Doch sollte man nicht vergessen, dass irgendwann auch wieder das Ufer in Sicht kommt. Das innere Gleichgewicht ist der Schlüssel dazu.
Es geht auch darum, eine schmerzliche Erfahrung zu überwinden, sobald man sie erkannt und verstanden hat. Auch wenn das Herz voller Schmerz ist, sollte man nicht vergessen, was um einen herum geschieht. Die Realität besteht nicht nur aus Leid, auch wenn man das manchmal glauben mag. Achtet man lediglich auf seine Wunden, so lässt man seinen Verstand glauben, dass dies das Einzige wäre, was existierte.
Das Leid wird auch nicht verschwinden. Man kann sich aber dazu entscheiden, daran zu wachsen und nicht unterzugehen. Dies kann funktionieren, indem man die dunkle Seite der eigenen Seele, ihre Monster und Dämonen umarmt. Der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung hat diese dunkle Seite der Persönlichkeit als Archetyp des Schattens bezeichnet. Der Keller, in dem man seine unterdrückten Instinkte, seinen Egoismus und seine ungefilterten Wünsche verbirgt.
Wenn wir das Licht sehen wollen, müssen wir zuerst in unsere dunklen Tiefen eintauchen.
Jeder leidet zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wichtig ist, dass man dieses Leiden erkennt, akzeptiert und und ihm dabei mit Freundlichkeit und ohne Aggression begegnet. Man sollte nicht so streng mit sich selbst sein. Vielmehr sollte man herausfinden, was die Ursachen dafür sind. Durch welche Gedanken und Handlungen verstärkt man es womöglich noch? Oft gießt man noch Öl ins Feuer, ohne es überhaupt zu merken.
Der nächste Schritt, um sich von seinem Leiden zu befreien, ist, seine Ursachen zu kennen und diese abzustellen. Dies erfordert viel Geduld und ist mit viel Mühe und natürlich auch Übung verbunden. Viele Menschen haben unzählige Strategien erlernt, um sich selbst körperlichen und emotionalen Schaden zuzufügen. Wichtig ist, sie zu erkennen und an seine Fähigkeit zu glauben, sodass man sich nicht von ihnen lenken lassen muss. Man sollte sich nicht zu einer Marionette seines eigenen Leids machen lassen.
Klar ist, dass dies kein einfacher Prozess ist. Man muss stark sein und an sich selbst glauben, um seinen Weg zum Wohlbefinden zu finden. Diese Wandlung wird nicht plötzlich erfolgen, sondern benötigt Zeit. Nur wer es schafft, die dunkle Seite seiner Seele zu akzeptieren, sich aber nicht von ihr einnehmen lässt, kann sein Leiden beenden und Frieden mit sich selbst schließen. Oft sind die Monster, die über einen Menschen bestimmen, nur ein Ausdruck seiner Angst, um Hilfe zu bitten.