Existenzialismus: Bösgläubigkeit als Zustand der Selbsttäuschung

Der französische Philosoph Sartre betrachtete den Menschen als Individuum mit unbegrenzter Freiheit, der sich jedoch selbst belügt, indem er seine Freiheit und Verantwortung für seine Existenz verleugnet.
Existenzialismus: Bösgläubigkeit als Zustand der Selbsttäuschung

Letzte Aktualisierung: 08. Februar 2024

Der Existenzialismus konzentriert sich auf die individuelle Existenz, Freiheit und Verantwortung des Menschen. Diese philosophische Strömung entstand im späten 19. Jahrhundert in Europa und wurde maßgeblich von den Arbeiten verschiedener Denker beeinflusst, darunter Søren Kierkegaard, Friedrich Nietzsche, Jean-Paul Sartre, Martin Heidegger und Albert Camus. Wir beschäftigen uns heute mit dem existenzialistischen Konzept der Bösgläubigkeit. 

Der französische Philosoph Sartre beschäftigte sich intensiv mit der Frage nach der Existenz Gottes und der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Er betrachtete den Menschen als Individuum mit unbegrenzter Freiheit, der sich jedoch selbst belügt, indem er seine Freiheit und Verantwortung für seine Existenz verleugnet. Dies bezeichnet Sartre als “Mauvaise foi” (deutsch: “böser Glaube”).

Bösgläubigkeit bezieht sich also auf die Selbsttäuschung oder Selbstverleugnung, die Menschen praktizieren, um der Verantwortung für ihre Entscheidungen und Handlungen zu entkommen. Wir nehmen anschließend diesen Begriff genauer unter die Lupe und befassen uns auch mit verwandten Konzepten wie Authentizität, Inauthentizität, moralische Verantwortung, Freiheit und Gewissen.

Bösgläubigkeit im Existenzialismus

Diese Selbsttäuschung ermöglicht es uns Menschen, uns als Opfer äußerer Umstände oder gesellschaftlicher Normen zu betrachten, anstatt unsere eigene Autonomie anzuerkennen und selbstständige Entscheidungen zu treffen.

Die Freiheit ist ein klassisches Beispiel für Bösgläubigkeit: Wir betrachten uns als Objekt, das dem Schicksal ausgeliefert ist, anstatt uns als Subjekt zu sehen, das seine Existenz selbst gestalten kann. In seinem Werk Das Sein und das Nichts beschreibt Sartre auch die Bösgläubigkeit in der Liebe, in sozialen Rollen oder moralischen Entscheidungen.

Diese Unehrlichkeit setzt volles Bewusstsein bzw. das Wissen darüber voraus. Damit verliert unser Leben an Authentizität, denn wir fliehen vor unserem eigenen Selbst. Sartre ist hingegen überzeugt davon, dass jeder Mensch sein Lebensprojekt wählen und entscheiden kann, wie er sein Leben gestaltet.

Inauthentizität, Authentizität und Bösgläubigkeit

Inauthentizität entspricht einem Zustand, in dem ein Individuum nicht in Übereinstimmung mit seiner wahren Existenz lebt, sondern eine falsche oder fremdbestimmte Identität annimmt. Dies steht im Gegensatz zur Authentizität, die Sartre als die Fähigkeit definiert, sein Leben in Übereinstimmung mit seiner wahren Natur und Freiheit zu leben.

Authentizität ist das Gegenteil der Bösgläubigkeit, denn sie ermöglicht es uns, Verantwortung für unsere Existenz zu übernehmen und unser Leben selbst zu gestalten. Die Inauthentizität stellt jedoch eine Bedrohung für jedes menschliche Projekt und für unsere Selbstverwirklichung dar.

Glaube und moralische Verantwortung

Die Moral der existenzialistischen Philosophie liegt in der Authentizität. Das bedeutet, dass unsere Verantwortung in der Freiheit liegt, das Leben zu wählen, das wir wollen. Vor dieser Verantwortung davonzulaufen bedeutet, ein Objekt der Welt zu werden.

Sartre macht den Menschen selbst für sein moralisches Handeln verantwortlich und lehnt ein übergeordnetes göttliches Gesetz oder eine transzendentale Moral ab. Wenn eine Person keine Selbstverantwortung übernimmt und nicht ihren eigenen Werten und Überzeugungen entsprechend lebt, handelt es sich um Bösgläubigkeit.

Die Mechanismen der Bösgläubigkeit

In seinem Werk Das Sein und das Nichts beschrieb Sartre drei Mechanismen der Bösgläubigkeit:

1. Transzendenz und Faktizität

In Sartres Denken bezieht sich Transzendenz auf die Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins, sich über sich selbst hinaus auf die Welt zu beziehen. Diese Fähigkeit ermöglicht es dem Menschen, sich selbst zu überschreiten und Entscheidungen zu treffen.

Die Faktizität bezieht sich hingegen auf die unveränderlichen Tatsachen der menschlichen Existenz, die nicht vom individuellen Bewusstsein geschaffen werden können. Dazu gehören unter anderem biologische, soziale und historische Faktoren.

Von Bösgläubigkeit spricht der französische Philosoph dann, wenn wir die Möglichkeit haben, etwas zu verändern, jedoch glauben, es nicht tun zu können. Wir müssen jedoch akzeptieren, dass es unbeeinflussbare Situationen gibt, z. B. eine Krankheit. Wir entscheiden uns nicht dafür, krank zu werden, aber es passiert trotzdem.

2. “Für-sich-Sein” und “Für-andere-Sein”

Menschen können ihre eigenen Wünsche, Überzeugungen oder Werte verleugnen, um den Erwartungen anderer zu entsprechen oder um Anerkennung und Zustimmung zu erhalten. Indem sie sich nach außen hin anpassen und sich selbst verleugnen, verlieren sie ihre Authentizität und Autonomie. Auch diese Selbstverleugnung ist Bösgläubigkeit.

Sartre versteht unter “Für-sich-Sein” das Selbst, das sich seiner eignen Existenz bewusst und radikal frei ist. Das “Für-andere-Sein” bezieht er auf die Art und Weise, wie ein Individuum von anderen betrachtet und bewertet wird, denn dadurch verändern sich das Selbstbewusstsein und die Identität.

Sartre nennt das Beispiel eines Kellners: Er identifiziert sich mit seiner Arbeit, aber seine Identität besteht nicht darin, ein Kellner zu sein, sondern es ist nur ein weiterer Aspekt seiner Existenz, der ihn nicht vollständig definiert. Er kann sich außerdem entscheiden, etwas anderes zu sein.

3. Identifikation mit bestimmten Zeitabschnitten

Sartre argumentiert, dass Menschen dazu neigen, sich mit bestimmten Zeitabschnitten zu identifizieren, zum Beispiel mit ihrer Vergangenheit oder Zukunft, anstatt die Existenz als ein kontinuierliches, unendliches Sein zu betrachten. Auch dies bedeutet Bösgläubigkeit, denn wir bleiben in einem bestimmten Zeitabschnitt stecken, doch wir sind viel mehr als kurze, vorübergehende Augenblicke.

Glaube und Psychoanalyse

Sartre kritisierte Freuds Konzept des Unterbewusstseins und der Triebe als eine Form der Bösgläubigkeit, bei der Menschen ihre Freiheit und Verantwortung für ihr Handeln leugnen, indem sie behaupten, von unbewussten Kräften oder Trieben gesteuert zu werden. Er betonte die Bedeutung der bewussten Reflexion und der Selbstbestimmung als zentrale Aspekte der menschlichen Existenz.

Fazit

Sartre bietet mit seinem Konzept der Bösgläubigkeit einen tiefgreifenden Einblick in die menschliche Existenz und die Herausforderungen, denen wir auf unserer Suche nach Authentizität und Selbstbestimmung begegnen. Der französische Philosoph erinnert uns daran, dass die wahre Freiheit darin besteht, die Realität unserer Existenz anzuerkennen und die Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen, anstatt uns in Illusionen oder Selbsttäuschungen zu verlieren.


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