"Universum 25", ein beunruhigendes Experiment zur Überbevölkerung
“Universum 25” mag wie der Titel eines Science-Fiction-Romans klingen, allerdings handelt es sich um eines der wichtigsten Experimente der Sozialpsychologie. Im Jahr 1968 baute der Ethologe und Biologe John Calhoun ein utopisches Szenario mit Mäusen auf, um herauszufinden, welche Auswirkungen eine Überbevölkerung haben würde. Fünf Jahre später war diese Metropole verwüstet.
Was in dieser Zeit geschah, zeigte, dass die Auswirkungen der fortschreitenden Überbevölkerung auf allen Ebenen sehr schädlich sein können. Obwohl die Erkenntnisse aus Tiermodellen nicht immer auf den Menschen übertragen werden können, geben sie doch einige Denkanstöße. Werfen wir einen Blick auf die Erfahrungen, welche der Forscher in einer Farm in Maryland aufzeichnete.
“Universe 25” war zunächst ein Garten Eden für Mäuse. Im Laufe der Jahre wurde das Experiment zu einer Hölle.
Das Experiment “Universum 25”
John Calhoun war ein Ethologe, der einen Großteil seines Lebens für das National Institute of Mental Health in den Vereinigten Staaten arbeitete. Die Überbevölkerung war Mitte des 20. Jahrhunderts ein großes Anliegen der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Der renommierte Forscher beschäftigte sich damit seit den 1950er-Jahren intensiv.
1968 initiierte er auf einem ländlichen Grundstück in Poolesville, Maryland, das als “Universum 25” bekannte Experiment. Ziel war es, das Verhalten von Tieren im Kontext der Überpopulation zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde für die Mäuse ein wahrer Garten Eden mit mehreren Nistplätzen und ständigen Futter- und Wasserquellen errichtet.
Es handelte sich um eine Art Metallgehege mit Tunneln, das 2,7 Meter breit und 1,4 Meter hoch war. Die Mäuse hatten alles, was sie benötigten, außer Platz. Erfahre anschließend Interessantes über die Ergebnisse dieses Experiments.
Vom Garten Eden zur Hölle
1968 wurden vier Mäusepaare in den für das Experiment vorbereiteten Lebensraum eingeführt. Im Laufe der Zeit beobachtete Calhoun, dass sich die Zahl der Geburten alle 55 Tage verdoppelte. Im 19. Monat nach Beginn des Experiments gab es bereits 2.200 Mäuse in dem Lebensraum. Diese Vermehrungsrate ist durch die Abwesenheit von Raubtieren und dem einfachen Zugang zu Nahrung zu erklären.
Es war eine ideale Gesellschaft. Der Forscher konnte verschiedene Phänomene beobachten, die für die Sozialpsychologie von großem Interesse sind:
- Es gab Hierarchien, in denen dominante Alphamännchen die Harems der Weibchen kontrollierten.
- Jene Mäuse, die Kämpfe mit dominanten Männchen verloren, bildeten Gruppen von “Dissidenten”.
- Es kam immer wieder zu Kämpfen und Auseinandersetzungen, bis die Alphamännchen aufhörten, ihre Weibchengruppen zu verteidigen.
- Die Weibchen mussten das Verteidigungsverhalten für die Nachkommen übernehmen. Das Gewaltniveau war jedoch so hoch, dass sie ihre Nachkommen schließlich aufgaben oder vernachlässigten.
- Zwischen dem 315. und 600. Tag traten abweichende Verhaltensweisen auf, die das soziale Gefüge auflösten.
- Die Weibchen wurden aggressiv und viele hatten keinen Nachwuchs mehr.
- Zwanghaftes Sexualverhalten entstand, einschließlich der Paarung zwischen Mäusen desselben Geschlechts.
- Es kam auch zu Kannibalismus.
- Die soziale Bindung war nicht mehr vorhanden.
- Ab dem 600. Tag hörten die Mäuse auf, sich fortzupflanzen. Sie verteidigten ihre Territorien nicht mehr und beschränkten sich auf grundlegende Aufgaben wie Gesundheit, Futter und Putzen.
- Angesichts des völligen Zusammenbruchs jeglicher sozialer Strukturen starb die Population allmählich aus.
Im Jahr 1973, weniger als fünf Jahre nach Beginn, endete das Experiment mit dem Tod der letzten Mäuse.
Die Nachkommen, die in einer solch chaotischen und von Gewalt geprägten Umgebung geboren wurden, waren nicht geschützt und es wurde keine Bindung zu ihnen aufgebaut. Das führte zum völligen Aussterben dieser kleinen Mäusegesellschaft.
“Universum 25”: die Schlussfolgerungen
Dr. Calhoun zögerte nicht, das Verhalten der Mäuse in seiner Theorie auf Menschen zu übertragen. Er klassifizierte sie während des gesamten Experiments als “jugendliche Straftäter” und “soziale Deserteure”. Später wurde er für diese Terminologie kritisiert. Die Studie wurde in der Zeitschrift The Royal Society of Medicine veröffentlicht. Der Forscher kam zu folgenden Schlussfolgerungen:
1. Verhaltenssenke (“behavioral sink”)
Calhoun prägte den Begriff Verhaltenssenke, mit dem er den Zusammenbruch der Mäusepopulation aufgrund der Überfüllung des Käfigs beschrieb. Die soziale Ordnung entwickelte sich zu einem Chaos, wobei primär drei Reaktionen zu beobachten waren:
- Zwanghafte und irrationale Gewalt
- Vernachlässigung von Bindungen (Sorge um den Nachwuchs)
- Rückzug und Isolierung (Konzentration auf Körperpflege und Futter als Überlebensstrategie)
2. Einige innovative Verhaltensweisen
Das berühmte Experiment lieferte auch einige hoffnungsvolle Daten: Es gab Mäuse, die innovatives Verhalten zeigten. Konfrontiert mit einer chaotischen, bedrohlichen und rückläufigen Umgebung, bauten einige Individuen Tunnel, um aus diesem Umfeld zu entkommen. Andere bauten Erhöhungen, um den den überfüllten Bereichen, in denen Gewalt dominierte, zu entkommen.
3. Individuen ohne Status
Der Forscher konnte nachweisen, dass die Mäuse ihren Status verloren, als sie aufhörten, um ihr Revier zu kämpfen. Dasselbe geschah mit den Weibchen, sobald sie merkten, dass sie sich nicht mehr um ihre Jungen kümmern konnten. Die Umgebung war so feindlich, dass die soziale Hierarchie zusammenbrach. So entstanden soziale Verhaltensweisen, die Hilflosigkeit und Verlassenheit widerspiegeln.
Wenn soziale Verhaltensweisen und die Rolle des Einzelnen nicht ausgereift sind, kommt es nicht zur Entwicklung einer sozialen Organisation oder Gemeinschaft.
4. Eine (fragwürdige) Analogie zur damaligen Welt
John Calhoun stellte seine Arbeit über das Verhalten von Mäusen als eine Analogie zur damaligen Welt vor. Es waren die 1970er-Jahre und das Bevölkerungswachstum war hoch. Dr. Edmund Ramsden von der Queen Mary University of London veröffentlichte 2011 einen interessanten Aufsatz über dieses Experiment.
- Calhoun präsentierte seine Studien, um über die Notwendigkeit einer Bevölkerungskontrolle nachzudenken oder diese zu rechtfertigen, insbesondere in den am stärksten benachteiligten Gemeinschaften.
- Das Experiment führte zu einer Debatte darüber, ob solche Studien auf menschliche Gesellschaften übertragen werden können.
“Universum 25”: Ist das Experiment auf Menschen übertragbar?
In den vergangenen Jahren sind die Geburtenraten in den Industrieländern stark gesunken, deshalb stehen wir vor einer zunehmend alternden Gesellschaft. Dazu kommt, dass junge Menschen weniger Interesse an Sex haben. Haben wir Calhouns utopisches Szenario erreicht?
Vorsicht bei der Übertragung von Experimenten auf die reale Welt
Das Sozialexperiment zur Überbevölkerung erinnert uns daran, dass nicht alle Phänomene, die wir im Labor mit Tieren beobachten, auf die reale Welt übertragbar sind. Wie bei einem Rorschach-Bild variieren die Interpretationen stark. Außerhalb des Labors gibt es außerdem sehr viele Variablen, die in einer kontrollierten Umgebung nicht berücksichtigt werden könnnen.
Der für die Mäuse eingerichtete Käfig zielte konkret darauf ab, durch räumliche Enge ein Populationschaos zu erzeugen. In einer natürlichen Umgebung wären die Ergebnisse vermutlich anders gewesen.
Es gibt ein größeres Problem als die Überbevölkerung
Das größte Problem des Experiments war nicht so sehr der enge Raum oder die Überbevölkerung, sondern der Verlust der individuellen Rollen, der zu einem sozialen Ungleichgewicht führte. Wenn wir dies auf die menschliche Welt übertragen, stellen wir ein ähnliches Problem fest: Wenn eine große Anzahl von Menschen nicht in der Lage ist, ihre Rollen in der Gesellschaft zu erfüllen, kann es zu Entfremdung und sozialen Brüchen kommen. Wir haben ein Problem, wenn wir beispielsweise aufgrund von Umweltfaktoren die Fähigkeit verlieren, komplexe Verhaltensweisen zu erfüllen und auszuführen.
“Universum 25” im Vergleich zur aktuellen Realität
Wir haben Mittel, um ähnliche Auswirkungen, wie sie Calhoun beobachten konnte, zu vermeiden: Technologie, Medizin und neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Wir sind sogar in der Lage, neue Umgebungen außerhalb unseres Planeten zu erforschen. Die menschliche Intelligenz ist innovativ und fähig, in komplexen Szenarien zu überleben.
Alle zitierten Quellen wurden von unserem Team gründlich geprüft, um deren Qualität, Verlässlichkeit, Aktualität und Gültigkeit zu gewährleisten. Die Bibliographie dieses Artikels wurde als zuverlässig und akademisch oder wissenschaftlich präzise angesehen.
- Calhoun, J.B. (1971). Space and the Strategy of Life. In: Esser, A.H. (eds) Behavior and Environment. Springer, Boston, MA. https://doi.org/10.1007/978-1-4684-1893-4_25
- Calhoun JB. (1973). Death Squared: The Explosive Growth and Demise of a Mouse Population. Proceedings of the Royal Society of Medicine, 66(1P2),80-88. doi:10.1177/00359157730661P202
- Freedman, J. L. (1975). Crowding and behavior. W. H. Freedman. https://psycnet.apa.org/record/1976-05842-000
- Ramsden E. (2011). From rodent utopia to urban hell: population, pathology, and the crowded rats of NIMH. Isis; an international review devoted to the history of science and its cultural influences, 102(4), 659–688. https://doi.org/10.1086/663598