Für dich, der du mich anschaust, du hast mir die Seele geraubt

Für dich, der du mich anschaust, du hast mir die Seele geraubt

Letzte Aktualisierung: 21. Mai 2016

Aus der Seele irgendeines Jungens:

Sie setzte sich einmal etwas näher, wenige Meter trennten uns, in Wirklichkeit Millionen. Meine Feigheit ließ mich nur hinschauen, wenn ich nicht in ihrem Blickfeld war. Wenn sie den Kopf von ihrem Buch hob, dann konnte ich nicht schauen, sondern senkte meinen Blick.

Ich wartete immer, bis sie zuerst ging und beobachtete vorsichtig, wie sie langsam, ohne ein Geräusch zu machen, verschwand. Höflich verabschiedete sie sich von der Beauftragten für die Bibliothek und  entwich durch jene traurige Tür, ohne zurück zu schauen.

Dann, zu Hause, zählte ich immer die Stunden, bis ich sie wieder sehen würde. Ich träumte wach und im Schlaf, von ihrer feinen Art die Seiten umzublättern und von diesem besonderen Gesichtsausdruck, wenn sie sich beharrlich auf etwas konzentrierte, das sie las. 

Ich zählte die Sekunden, bis sie sich am nächsten Tag, am selben Platz, wieder setzen würde und ich sie wiedersehen könnte.

Aus der Seele irgendeines Mädchens:

Dort war er, am selben Ort, in seine Bücher vertieft, mit diesen schrecklichen Hemden, die ihm sicherlich seine Mutter kaufte. Genau dort, wie immer. Einmal mehr beschleunigte sich mein Herz und ich schaffte es nicht, mich auf meine Bücher zu konzentrieren, ich musste schauen. Ich hob unauffällig mein Gesicht in seine Richtung, mit der Absicht ihn einmal mehr zu erforschen.

Diese Brille war schrecklich, aber er erschien mit ihr so attraktiv und interessant, dass ich darum bettelte, dass er sich in irgendeinem Moment erhebt und mich zu einem Kaffee einlädt. Ich untersuchte mein Studienobjekt und fragte mich, ob er eine Freundin hat. Obwohl es nicht so viel zu lernen gab, kehrte ich immer wieder zurück, Tag für Tag, Woche für Woche, um i hn dort sitzen zu sehen, um seine Noten zu verbessern.

Wenn ich ging, dann näherte ich mich immer kompliziert der Beauftragten für die Bibliothek und fragte sie, ob sie nach ihm schauen würde, wenn er ging. Darauf wusste die Beauftragte mit der großen, dicken Brille nicht recht zu antworten, da ihre Sicht nicht dafür ausreichte. 

Dann zu Hause schrieb ich die Dinge in mein Tagebuch, die mein Aufmerksamkeit erregt hatten. Tag für Tag schrieb ich am Ende einen imaginären Abschnitt, den mir mein Herz diktierte, über etwas, das nicht passiert war, darum bettelnd, dass es passiert. Er sollte einfach auf mich zugehen und sich vorstellen.

Wir machen uns im Leben Sorgen um die Vergangenheit, um die Zukunft und nur selten leben wir das Jetzt. Wir erlauben, dass dieses unseren Fingern entgleitet und bemerken nicht, dass es vorbeigeht und nie mehr wieder kommt.

Als Kinder wollen wir erwachsen sein. Als Jugendliche leben wir, als wäre das Leben unendlich und als Erwachsene – was bleibt dann noch?. Bis wir an einen Punkt im Leben kommen, an dem wir eine Bilanz der zurückgelegten Strecke ziehen. Wir fragen uns, ob unser Leben den Kummer verdient hat, ob wir es gut gemacht haben und die Chancen nutzten, die selbiges uns gab.

Viele Male haben wir das und andere Male nicht… Und immer, wenn wir feststellen, dass eine Chance verstrichen ist, fragen wir uns, was wäre wenn.

Carpe diem ist ein lateinischer Ausdruck, der „nutze den Tag” bedeutet, obwohl seine Bedeutung noch viel weiter geht. Es ist eine existenzielle Lebensphilosophie. Es ist eine andere Art, das Leben zu schätzen, ein Ruf nach der Freiheit, ein Berühren der Momente, die es uns gibt.

Es heißt, nutze das Leben, genieße den Moment, atme die Luft, spüre den Wind, lebe das Jetzt und lebe dein Leben, lass es nicht ungenutzt, denn die Zeit vergeht und kommt nie mehr zurück, sie verschwindet für immer. Genieße das Leben. Trinke es, ohne betrunken zu werden, und ergötze dich an seiner Frische. 

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Lebe dein Leben und du wirst dich nie fragen müssen, was wäre wenn?

Es ist gut die, Zukunft zu planen und sich an die Vergangenheit zu erinnern, wo wie herkamen und wo wir hingehen. Aber alles hat keinen Sinn, wenn wir nicht nutzen, was vor uns liegt, sei es die Freude, einem spielenden Baby zuzusehen, oder ein feuriger Kuss, ein guter Wein oder ein tolles Buch, ein Spaziergang am Strand oder das Gefühl der Sonnenstrahlen auf deinem Rücken.

Das Leben zu leben ist viel mehr, als es nur zu leben. Es heißt zu fühlen, zu atmen, das Leben zu lieben, die Momente zu nutzen, die es uns bietet und uns mit der Lust schlafen zu legen, dass ein neuer Tag darauf wartet, entdeckt zu werden. Denn selbst von schlechten Dingen lernen wir etwas Gutes und ohne Schlechtes wäre es unmöglich, das Gute zu schätzen.

Den Moment zu leben, das Hier und Jetzt zu leben, das bringt eine Lehre mit sich, es bedeutet sich gehen zu lassen, vollständig bedienen ohne zu schätzen, fühlen ohne zu denken. Im Einklang mit Werten leben und ohne zu kontrollieren, zu erlauben, dass die Momente fließen und zuzulassen, dass sie über uns kommen und unsere Seele bereichern.

Letzten Endes sagt uns carpe diem, dass wir nicht zulassen sollen, dass unsere Chancen, glücklich zu sein, verloren gehen: eine Liebe, eine Arbeitsstelle oder eine Gelegenheit, sich zu verbessern, ergibt sich vielleicht nur in einem magischen und einmaligen Moment in unserem Leben.

Schnapp ihn dir, halt ihn stark fest und nimm ihn dir mit. Irgendwelche jungen Leute…

Einen Tag nach vielen Tagen erhielt einer von beiden einen geschlossenen Brief aus den Händen der Bibliothekarin. Beim öffnen kam eine Notiz zum Vorschein auf der stand: „Für dich, der du mich anschaust, du hast mir die Seele geraubt”.

Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Zurijeta


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.