Der Brief eines Vaters an seine Tochter, mit der er lernte, zu wachsen

Der Brief eines Vaters an seine Tochter, mit der er lernte, zu wachsen

Letzte Aktualisierung: 24. Oktober 2017

Gestern wurde sie geboren und heute, in wenigen Stunden, besucht sie ihre erste Vorlesung an der Uni. Gestern sagte man mir, dass ich Vater werden würde, kurz darauf begann sie, zu krabbeln, und nur ein paar Minuten später hatte nahm sie Fahrstunden. Gestern schaute sie uns mit großen Augen an, als wären wir das Faszinierendste auf der Welt, und heute sieht sie uns so an, als würde sie uns in- und auswendig kennen, mit all unseren Schwächen. Seitdem ist nur eine Nacht vergangen, eine Nacht, in der ich nachgedacht habe, sie mich fasziniert hat und ich sie habe aufwachsen sehen.

Ich musste nach und nach reifen, weil ich nicht immer die Zeit dafür hatte und arbeiten gehen musste. In anderen Augenblicken haben mich ihre Geschwister, meine Geschwister, meine Freunde oder meine Eltern, ihre Mutter oder ich mich gebraucht. Ja, manchmal habe auch ich mich gebraucht. Entweder bin ich zu spät nach Hause gekommen oder mir sind keine Geschichten eingefallen. So kam es, dass sie aus dem Alter für erfundene Geschichten raus war und langsam erleben musste, dass die Realität so grausam wie auch wunderschön sein kann.

Sie sollte sich die Geschichten selbst ausdenken. So versuchten wir, sie nicht zu überbehüten, und ließen sie in jedem Schritt, den sie tat, trotz jeder Gefahr, der sie sich aussetzte, handeln, ganz nach dem Motto „selbst ist die Frau“.

 

Gemeinsam ist die Familie stark, auch davon handelt dieser Brief eines Vaters an seine Tochter

Die Hoffnungen eines Vaters

Gestern hatte ich so viele Hoffnungen in sie gesetzt. Hoffnungen, die allein meine waren und über die sie kein Wort verloren hat. Wenigstens zeigte sie auf das Fläschchen, als sie Durst hatte, oder stopfte sich etwas in den Mund, als sie Hunger hatte. Heute sind meine Hoffnungen noch immer meine, aber die Realität sieht so aus, dass sie ihre eigenen erschaffen hat und ich musste das akzeptieren. Das ist ein Prozess, der eine ganze Nacht gedauert hat.

Ich hätte es schön gefunden, wenn sie Anwältin geworden wäre. Denn meiner Meinung nach führen Anwälte ein gutes Leben, genießen die Anerkennung der Gesellschaft und verfügen aufgrund ihrer Bildung über eine höhere Macht als die meisten Sterblichen. Doch sie wollte Journalistin werden.

Aber nicht so eine, die in den Nachrichten zu sehen ist, sondern eine, die reist, von Kriegen erzählt und diesen anonymen Seelen eine Stimme gibt, die sonst niemand hört. Mir macht das Angst, so sehr sogar, dass ich manchmal nicht schlafen kann. Während sie mich mit diesem verträumten Blick ansieht, weil sie jemandem ihr Herz geschenkt hat, den sie kaum kennt, aber den sie liebt. Als Vater erfüllt mich dieser Blick, ihr Blick, mit Stolz.

Ihr die Kontrolle überlassen

Als Vater ist es auch nicht einfach gewesen, ihr immer mehr Kontrolle zu überlassen. Ich habe sie immer kleiner gesehen als sie war, verletzlicher, beeinflussbarer und unschuldiger. Ich habe auch gesehen, wie sie oftmals voller Bestimmtheit auf den Abgrund zugesteuert ist, und ich musste es ihr erlauben, denn so sehr es mir auch gefallen hätte, ihr aufmerksamster Lehrer zu sein, gibt es doch Lektionen, die uns nur das Leben oder andere Menschen lehren können.

Sie ist so hübsch, so hübsch wie sie in ihrem Bett liegt. Ich weiß nicht, ob sie das weiß, aber sie ist das schönste Mädchen der Welt. Ich habe ihr das viele Male gesagt und sie hat mich immer angelächelt, nachdem sie rot geworden ist, und erwiderte: „Papa, mach mich nicht verlegen.“

Ich verstehe diesen Kampf, den sie begonnen hat, gegen ihren Körper zu führen, kaum. Ich krame aus meinen Erinnerungen die Gedanken heraus, als es mir auch etwas ausgemacht hatte, was andere Jungen und Mädchen meines Alters über mich dachten. Man muss lernen, dass man sich oft erinnern muss, um zu verstehen, und während dieser Übung bin ich zudem auf Nostalgie gestoßen, die mir die Sicht verschleiert hat.

Dieses Unbehagen, das ich verspürte, wenn ich mit dieser grauenvollen, von meiner Mutter aus Langeweile selbst gestrickten Jacke in die Schule gehen musste, die dazu noch höllisch kratzte. Ich weiß nicht, mit welcher scheußlichen Jacke ich sie wohl ausgestattet habe, wahrscheinlich waren es sogar mehrere. Vielleicht war es dieser Musikunterricht, zu dem ich sie schleifte, bis ihre Abneigung der Musik gegenüber meinen Wunsch, dass sie sich mit Achtelnoten und Viertelnoten anfreunden würde, überwog. Es gelang mir nicht, ihr Gefallen daran zu vermitteln, sie raffte sich für mich auf und ich war fest davon überzeugt, dass es gut für sie wäre.

So sehr es mir auch gefallen hätte, ihr aufmerksamster Lehrer zu sein, gibt es doch Lektionen, die uns nur das Leben oder andere Menschen lehren können.

Glückliche Tochter macht Seifenblasen

Mir ist etwas bewusst geworden

Wenn ich noch einmal von vorn beginnen könnte, glaube ich, würde ich dich nicht mehr dazu verpflichten, so Sachen zu machen, die ich für gut hielt. Ich wünschte, mir wäre aufgefallen, wie du den Ball angeschaut hast, als du klein warst und dich mit dir Fußball gespielt habe. Ich hätte nicht so ängstlich sein und dir mehr vertrauen sollen. Ich hätte nicht so spät nach Hause kommen sollen. Ich hätte dir erlauben sollen, zu spielen, bevor du genervt von mir warst und dir andere Mädchen zum Spielen gesucht hast.

Ich hätte früher sehen müssen, dass du absolut dazu in der Lage warst, dir selbst eine Jacke zu holen, wenn dir kalt war, zu essen, wenn du Hunger hattest. Denn das waren deine wichtigsten Bedürfnisse in den ersten Lebensjahren, aber später nicht mehr. Was du später gebraucht hast, war Motivation für all die Projekte, die du die vorgenommen hast, Antworten auf die Fragen, die du wegen deines Alters hattest, und die Nähe eines Menschen, der dir nicht sagt, was du tun sollst, sondern dir Unterstützung bietet, Trost spendet und Linderung verschafft. Vielleicht war das teilweise der Vaterrolle geschuldet.

Man sagt, dass Gefühle magisch seien und dass wir Menschen so viele hätten, dass wir mehrere gleichzeitig empfinden könnten. Ich fühle mich traurig, weil ein Teil unserer gemeinsamen Zeit nicht wiederkommen wird. Ich denke, dass alle Eltern irgendwann dieses Gefühl verspüren, aber das an sich stimmt mich nicht traurig.

Ich bin jetzt traurig, wenn ich sehe, wie du deine eigenen Kämpfe austrägst, und es erfüllt mich gleichzeitig mit Stolz, zu sehen, wie aufrichtig du sie kämpfst. Du trägst die falschen oder die richtigen Kämpfe aus, weil du dich dafür entschieden und du deine Leidenschaft in ihnen gefunden hast. Wenn ich sehe, wie du wächst, verstehe ich, dass ich ein einfaches Leben für dich wollte und dass du ein glückliches Leben für dich wolltest.

Ich hoffe einfach nur, dass du dein Glück findest und es natürlich ein bisschen mir teilst.

PS: Wie du siehst, bin auch ich heute ein bisschen journalistisch tätig gewesen und ich würde diesen Artikel gern zusammen mit dir beenden und unterschreiben, wenn wir gemeinsam essen.

Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Soosh


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.