Die Routine und die Flucht vor sich selbst

Verdrängst du deine Gefühle, indem du ihnen in deinem Alltag keinen Platz lässt? Das kann einen hohen Preis haben. Erfahre mehr zu diesem Thema.
Die Routine und die Flucht vor sich selbst
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 06. März 2023

Nach einem anstrengenden Arbeitstag liegst du manchmal im Bett und fragst dich, ob du mit deinem Alltag, der durch Beruf, Familie, Hausarbeit und Einkäufe geprägt ist, tatsächlich zufrieden bist. Du kennst die Antwort, denkst jedoch lieber nicht zu viel darüber nach. Du schließt die Augen, der du weißt, dass die Routine am nächsten Tag einiges von dir abverlangt. Du lebst im Autopilot und das hat einen Vorteil: Du kannst dich vor dem Nachdenken schützen, es ist eine Flucht vor dir selbst, mit der du versuchst, Enttäuschung, Frustration und negative Gefühle zu verdecken.

Die Tage vergehen, einer gleicht dem anderen… fast so wie wie in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier,  verläuft jeder Tag nach demselben Muster. Wir müssen funktionieren, ganz egal, wie wir uns fühlen. 

“Die meisten leben in den Ruinen ihrer Gewohnheiten.”

Jean Cocteau

Die Routine und die Flucht vor sich selbst
Oft vergessen wir unsere Ziele und machen es uns in unserer Routine bequem, die uns jedoch von unseren Träumen fernhält.

Wenn die Routine Gefühle verdeckt

Das British Film Institute, das die Zeitschrift Sight & Sound herausgeibt, führt alle zehn Jahre eine Abstimmung durch, um den besten Film der Geschichte zu wählen. Vor kurzem fiel die Wahl auf Jeanne Dielman, eine Produktion von 1974 unter der Regie von Chantal Akerman. Die Handlung mag auf den ersten Blick unscheinbar wirken.

Sylvain ist eine verwitwete Frau mit einem Sohn im Teenageralter. In den drei Stunden und zwanzig Minuten des Films sehen wir, wie sie Alltagsaufgaben erledigt: bügeln, kochen, waschen, einkaufen… und gelegentlich arbeitet sie als Prostituierte. In diesem Universum der vertrauten Routine verstecken sich viel Leid und Unterwerfung.

Selten spiegelt die Monotonie des Alltags die Grundunzufriedenheit und Verzweiflung, von der Jean-Paul Sartre sprach, so perfekt wider. Der Automatismus des Alltags macht uns zu Zombies, die sich treiben lassen, um nicht gegen das eigene Unglück zu rebellieren. Wo fängst du an, wenn du dich völlig gefangen fühlst von einer Lebensweise, aus der du (scheinbar) nicht entkommen kannst?

Und du, lebst du, oder lässt du dich einfach treiben, ohne zu reagieren oder zu rebellieren?

Das Gehirn ist auf Automatismen programmiert, das ist das Problem

Das Max-Planck-Institut hat vor einigen Jahren in einer Studie nachgewiesen, wie das neuronale Netzwerk funktioniert, das einen guten Teil unseres Verhaltens beherrscht. Das Gehirn ist darauf programmiert, automatisch zu agieren und zu reagieren. Das erspart uns unendlich viel Energie und die Notwendigkeit, bei jeder Handlung innezuhalten und darüber nachzudenken.

Wer Autofahren kann, muss nicht innehalten, um nachzudenken, wann er die Gangschaltung ändern muss oder was jedes Verkehrsschild bedeutet. Jede Bewegung wird zu einem Automatismus und das gilt auch für fast 90 Prozent unserer Entscheidungen. Unsere Erfahrungen, unsere Persönlichkeit und unsere unbewussten Vorurteile steuern unser Verhalten.

Dass wir uns in Routinen verankern, um nicht nachdenken zu müssen, hat viel mit dem Autopiloten des Gehirns zu tun. Selbstreflexion braucht Zeit und ist anstrengend. Wir müssen Automatismen durchbrechen, um unsere Gefühle und Blockaden zu hinterfragen, um den Ursachen von Schmerz und Unbehagen auf den Grund zu gehen. Das Gehirn ist darauf programmiert, Leid zu verhindern, deshalb ermutigt es uns, mit der Routine weiterzumachen. Wir funktionieren wie Roboter und kapseln uns ab, um nicht an das Leid denken zu müssen.

Woran erkennst du, dass du auf Autopilot lebst?

Wir haben über den Film Jeanne Dielman gesprochen, der von vielen als der beste Film aller Zeiten angesehen wird. Das Leben dieser Frau dient als obligatorische Reflexion. Denn viele von uns sind sich nicht bewusst, dass sie die Routine als Fluchtmechanismus verwenden, um ihre Gefühle zum Schweigen zu bringen.

Charakteristische Merkmale sind in diesem Fall:

  • Du führst jeden Tag dieselben Aktivitäten aus, ohne darüber nachzudenken. Veränderungen in deinem Tagesablauf machen dich nervös.
  • Du kennst nur zwei Zustände: Routine und Ablenkung. Würdest du an deine Gefühle oder Bedürfnisse denken, würdest du dich unwohl fühlen.
  • Du orientierst dich meistens an anderen. Fröhliche Augenblicke sind ebenfalls Routine.
  • Außerdem hast du das Gefühl, dass dir das Leben entgleitet, dass die Zeit zu schnell vergeht. Das ist dir unangenehm, aber du lässt diese Gedanken sofort wieder los und kehrst zu deinen Aufgaben zurück.
  • Du bist abends müde oder erschöpft und schläfst sofort ein – eine weitere Strategie, um über nichts nachdenken zu müssen.

Es stimmt, dass Routinen gut für den Geist sind, aber wenn siedas gesamte Leben dominieren, können sich Ängste oder depressive Zustände entwickeln.

Die Routine und die Flucht vor sich selbst
Konzentriere dich auf das Hier und Jetzt und versuche, den Autopilot auszuschalten.

Wie du der Monotonie entkommen kannst

Tägliche Gewohnheiten und feste Zeitpläne haben Vorteile, doch wenn die Routine keine Gefühle und keine Reflexion zulässt, ist dein Wohlbefinden in Gefahr. Hinter diesem Verhalten verstecken sich oft Ängste oder Deppressionen. Du musst unbedingt etwas unternehmen, um die Kontrolle über dein Leben zu erlangen und deine Energie, deine Motivation und das Wohlbefinden zu fördern.

1. Halte inne und denke nach

Alles kann eine Stunde lang warten: Suche dir einen ruhigen Ort und stelle dir die folgenden Fragen, auch wenn sie wehtun:

  • Was tue ich gerade?
  • Wie fühle ich mich bei dem, was ich tue?
  • Passt das, was ich tue, zu meinen Zielen und Vorstellungen?

2. Kläre dein Lebensziel

Wir müssen unser Lebensziel immer wieder überdenken, denn im Laufe der Zeit kann es sich verändern. Nur wenn du weißt, was du erreichen möchtest, kannst du in die richtige Richtung gehen.

3. Mach jeden Tag etwas anderes

Routinen sind wichtig, doch ein routiniertes Leben braucht Veränderungen. Verusche, jeden Tag eine neue Aktivität in deinen Alltag einzubauen, die dir Spaß und Freude bereitet und dich motiviert.

4. Verlangsame und verbinde dich mit dir selbst

Der Autopilot zwingt dich, dich mit hoher Geschwindigkeit durch dein Leben zu bewegen. Du kannst die Landschaft kaum betrachten und weißt nicht, wo du bist. Du sitzt nicht einmal selbst am Steuer und du weißt auch nicht, wohin die Reise geht. Entschleunige dein Leben, drossle das Tempo, um die Kontrolle selbst zu übernehmen. Schule deinen Geist in Achtsamkeit, um dich auf das Hier und Jetzt konzentrieren zu können. Vernachlässige deine Innenwelt nicht und höre auf deine Bedürfnisse.

Auf den Fahrersitz zurückzukehren und den Beifahrersitz zu verlassen, erfordert Engagement und Mut. Den Mut derjenigen, die sich entscheiden, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und Veränderungen zu bewirken, um mehr Zufriedenheit zu erreichen.


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