Selbstverletzendes Verhalten: Warum fügen sich manche Menschen absichtlich Schmerzen zu?
Warum fügen sich manche Menschen absichtlich selber Schaden oder Schmerzen zu? Nach einigen Schätzungen verletzen sich vier Prozent der Erwachsenen selbst. Dabei gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen Männern und Frauen. Die Zahl bei Jugendlichen (im Alter zwischen 12 und 18 Jahren) ist so hoch, dass sie zu einem Hauptanliegen in den Gesundheitsbehörden geworden ist. Das Ritzen, Schlagen oder Verbrennen der Haut oder das Herausziehen von Haaren sind nur einige Beispiele für selbstverletzendes Verhalten. Der Grund, warum Menschen dies tun, ist eine emotionale Befreiung. Paradoxerweise fühlen sie sich durch dieses Verhalten besser.
Aber nicht jeder, der sich selber ritzt, ist sich auch darüber bewusst, warum er oder sie dies tut. Einige Menschen argumentieren, dass Teenager selbstverletzendes Verhalten praktizieren, um „cool“ zu sein. Allerdings untergräbt und verharmlost diese Einschätzung die Ernsthaftigkeit dieses sich immer weiter ausbreitenden Problems vollkommen. Eine horizontale Narbe am Handgelenk eines Teenagers bedeutet nicht immer, dass er irgendwann versucht hat, Selbstmord zu begehen. Sie könnte auch auf einen Versuch hinweisen, sich durch Schmerz „lebendig zu fühlen“.
Das Phänomen der Selbstverletzung oder des selbstverletzenden Verhaltens (SVV) ist weitaus komplexer als es zunächst scheint. Daher werden wir uns in unserem heutigen Artikel eingehender mit dieser Thematik befassen. Wir werden auf verschiedene Ursachen eingehen und aufzeigen, wie sich selbstverletzendes Verhalten auf die Betroffenen auswirkt. Darüber hinaus werden wir auf die Behandlungs- und Interventionsoptionen eingehen.
Ursachen und Gründe für selbstverletzendes Verhalten
Einige Leute schämen sich, weil sie ein paar Pfunde mehr wiegen oder ihre Nase nicht dem aktuellen Schönheitsideal entspricht. Andere empfinden Scham wegen der Narben, die ihr selbstverletzendes Verhalten auf ihrem Körper hinterlassen hat. Daher verbergen sie diese unter langen Ärmeln oder durch Tätowierungen oder sie fügen sich nur an den Körperteilen Schmerzen zu, die andere Menschen nur selten zu Gesicht bekommen.
Laut einer Studie, die von 2005 bis 2011 von der Psychologischen Fakultät der University of Wisconsin-Madison durchgeführt wurde, hat sich jeder fünfte Jugendliche bereits selber einmal verletzt. Leider haben diese Zahlen erst in den letzten Jahren so stark zugenommen.
Die Psychopathologie dieses Verhaltens hat das Interesse der Forscher geweckt, insbesondere in Bezug auf die Auswirkungen, die soziale Medien auf diese Entwicklung haben. Das Aufkommen sozialer Netzwerke hat das Ritzen bei Teenagern viel „populärer“ gemacht. Während Erwachsene, die sich ritzen, dazu neigen, ihr Verhalten sorgfältig zu verbergen, gehen einige Teenager sogar so weit, die Fotos ihrer selbst zugefügten Verletzungen zu veröffentlichen.
Das ist ein absolut alarmierendes Verhalten. Aber die Frage bleibt dennoch die gleiche: Warum schaden sich Menschen selbst? Warum ist es eine kathartische Erfahrung, sich selbst Schmerzen zuzufügen?
Die Ursachen für selbstverletzendes Verhalten
Der Diagnostische und statistische Leitfaden psychischer Störungen (DSM) definiert dieses Verhalten als „Störung“. Mit anderen Worten, es wird als psychisches Problem betrachtet. Allerdings sind die meisten Experten der Meinung, dass selbstverletzendes Verhalten oft das Symptom für ein tiefergehendes Problem ist. Gonzalez, R. B. und Alvarez, B. G. (2012) argumentieren, dass Menschen, die sich selbst Schaden zufügen, normalerweise an einer Angststörung, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.
Hier sind einige Auslöser für selbstverletzendes Verhalten:
- Intensiver Druck und eine überwältigende Arbeitsbelastung in der Schule oder bei der Arbeit
- Mobbing im schulischen Umfeld
- Probleme bei der Arbeit
- Missbrauchserfahrungen in der Kindheit
- Gegen die eigene Person gerichtetes homophobes oder transphobes Verhalten
- Probleme mit dem Selbstwertgefühl
- Erleiden eines schweren Verlustes, wobei kein Ausweg aus der Trauer gefunden werden kann
- Sich im Laufe der Zeit zunehmend aufbauender Stress
- Finanzielle Probleme
- Die Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine der psychischen Erkrankungen, die selbstverletzendes Verhalten verursachen können.
- Hass auf deinen eigenen Körper
Wie du erkennen kannst, können sich die Situationen, die zu diesem Verhalten führen, stark voneinander unterscheiden. Es spielt keine Rolle, wie alt du bist, wie viel Geld du hast oder welches Geschlecht du hast. Für viele Menschen ist die Suche nach diesem Schmerz das einzige Fluchtventil.
Warum fügen sich manche Menschen absichtlich Schmerzen zu?
Es gibt nicht viel, das deine Aufmerksamkeit stärker auf sich lenken kann, als die Tatsache, dass sich jemand die Haut aufritzt, verbrennt, sich die Haare ausreißt oder einfach so lange an einer Borke kratzt, bis sich diese entzündet. Aber was bewegt Menschen zu derartigem Verhalten? Was wollen sie durch selbstverletzendes Verhalten erhalten?
Villarooel, J. und Jeres, S. (2013) erläutern in ihrem Buch Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten im klinischen Umfeld [Übersetzung aus dem Spanischen], warum dieses Verhalten auftritt.
- Körperliche Schmerzen können emotionales Leiden lindern. Sie lenken nicht nur von der traurigen Vergangenheit oder der Angst vor dem gegenwärtigen Moment ab. Selbstverletzung ist auch ein Weg, um sich eine psychische „Erleichterung“ zu verschaffen, so als würde der Betroffene einen schweren Rucksack von der Schulter nehmen. Die Auswirkung lässt sich in etwa mit dem Gefühl vergleichen, dass ein an Bulimia nervosa erkrankter Patient empfindet, wenn er oder sie sich nach dem Essen übergibt.
- Darüber hinaus verletzen sich manche Menschen, weil sie versuchen, sich dadurch selbst zu bestrafen. Da sie ihre eigenen schlimmsten Kritiker sind, ist selbstverletzendes Verhalten ihre Art und Weise, einen Fehler, geringe Produktivität oder einen Misserfolg wieder gutzumachen.
- Außerdem solltest du berücksichtigen, dass Selbstverletzung für manche Menschen eine Möglichkeit ist, “etwas zu fühlen”. Wenn du das Gefühl hast, dein Leben sei leer, bedeutungslos und eintönig, ist dieses Verhalten ein Weg, um all dem zu entkommen.
- Eine selbst zugefügte Verletzung kann aber auch ein Schrei nach Aufmerksamkeit sein. Dies gilt insbesondere für Jugendliche im Alter von 12 und 13 Jahren.
Wie kann man Menschen helfen, die sich selber verletzen?
Kurz gesagt, Menschen, die sich selbst verletzen, tun dies, weil sie in irgendeiner Weise leiden. Ein psychologischer Ansatz und ein schnelles Eingreifen sind in jedem Fall von entscheidender Bedeutung. Das liegt daran, dass ein enger Zusammenhang zwischen Selbstverletzung und Selbstmord besteht.
Eine angemessene Behandlung für selbstverletzendes Verhalten umfasst folgende Maßnahmen:
- Problemlösungsbasierte Therapie. Der Therapeut arbeitet gemeinsam mit dem Patienten daran, herauszufinden, was dieses Verhalten auslöst. Anschließend werden Strategien entwickelt, um diese zugrunde liegenden Probleme zu lösen.
- Die kognitive Verhaltenstherapie ist auch bei sich selbst verletzenden Patienten sehr hilfreich, denn sie unterstützt diese beim Umgang mit Gedanken, Emotionen und Verhaltensweisen.
- Darüber hinaus ist auch die Arbeit am emotionalen Management und am Selbstwertgefühl der Betroffenen von großer Wichtigkeit.
Idealerweise sollte auch die Familie des Patienten in die Therapie einbezogen werden, insbesondere wenn der Patient minderjährig ist. Das Familienleben von Kindern und Jugendlichen spielt bei solchen Themen eine entscheidende Rolle. Daher ist es wichtig, dies bei der Behandlung zu berücksichtigen. Selbstverletzendes Verhalten ist ein gefährliches und trügerisches Fluchtventil, auf das du keinesfalls zurückgreifen solltest. Wenn du oder jemand, den du kennst, selbstverletzendes Verhalten aufweist, solltest du dir umgehend professionelle Hilfe holen.
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