Wir sind eine Gesellschaft mit einem hohen Cholesterinspiegel und wenig Motivation

Wir sind eine Gesellschaft mit einem hohen Cholesterinspiegel und wenig Motivation

Letzte Aktualisierung: 03. Juni 2017

Wir sind eine Gesellschaft, in der Leid nach wie vor ein stiller Begleiter ist. Wir nehmen Tabletten, um den Schmerz des Lebens zu betäuben, tun etwas gegen unseren hohen Cholesterinspiegel und die geringe Motivation, die wir besitzen, während man uns fragt: „Was macht deine Motivation heute?“,  so als wäre eine Depression eine simple Erkältung oder eine Infektion, die mit Antibiotika behandelt werden könnte.

Die Ärzte klagen, dass sie alle Hände voll zu tun hätten. Jeden Tag würden sie auf Dutzende Menschen treffen, die eindeutige Anzeichen einer Depression oder einer Angststörung aufweisen. Es scheint so, als wäre die Gesellschaft eine Pupille, die sich beim Betreten eines düsteren Zimmers erweitert, in dem uns die Dunkelheit sofort belagert.

„Die Vögel der Traurigkeit können über unserem Kopf fliegen, aber sie können sich nicht auf unserem Haupt niederlassen.“

Chinesisches Sprichwort

Leid macht sich sowohl in unserem Körper als auch in unserem Verstand bemerkbar: Uns tun der Rücken, die Knochen, das Herz und der Magen weh und wir verspüren einen Druck auf unserer Brust. Unsere Bettlaken sind ein warmer Zufluchtsort, aber sie gleichen den Tentakeln eines Tintenfisches, die uns dazu einladen, dort, weit weg von der Welt, von Licht, Gesprächen und dem Lärm des Lebens, zu verweilen.

Die Weltgesundheitsorganisation prognostizierte, dass die Krankheit Depression binnen 20 Jahren zum größten gesundheitlichen Problem der Bevölkerung der westlichen Welt würde, und um dem entgegenzuwirken, würden wir nicht nur Maßnahmen, Werkzeuge oder gut ausgebildete Experten benötigen. Es bedürfe vor allem Bewusstsein und Sensibilität.

Wir dürfen nicht vergessen, dass niemand von uns immun dagegen ist, eines Tages an einer psychischen Störung zu erkranken. Wir können Leid nicht verharmlosen. Das zu verstehen, wirkt sich positiv auf unsere Gesellschaft aus, wir werden besser mit mentalen Leiden umgehen können und vor allem können wir dadurch Krankheiten wie der Depression vorbeugen.

Depression: der stille Begleiter und das persönliche Versagen

Markus ist 49 Jahre alt und Krankenpfleger. Vor zwei Tagen erhielt er die Diagnose, ängstlich-depressiv zu sein. Bevor er seinen Termin beim Spezialisten ausmachte, bemerkte er schon den Schatten dieser Depression, vielleicht weil er die Symptome erkannte, die er wahrnahm, als seine Mutter diese schrecklichen Phasen durchlebte, während derer sie Motivationslosigkeit und Isolierung in ihrem Zimmer verweilen ließen. Es war eine Zeit, die seine Kindheit prägte.

Nun ist er derjenige, der krank ist, und obwohl man ihm dazu geraten hat, sich krankschreiben zu lassen, möchte Markus das nicht. Er hat Angst vor den Kommentaren seiner Arbeitskollegen, Ärzte und Krankenschwestern wohlgemerkt, die über seine Krankheit urteilen. Und er ist beschämt, weil die Depression für ihn ein persönliches Versagen, eine geerbte Schwäche ist.

Sein Verstand wird von immer wiederkehrenden, ihn zerfressenden Erinnerungen an seine Mutter heimgesucht. An eine Frau, die nie zum Arzt gegangen ist und die einen großen Teil ihres Lebens in einem nervenaufreibenden emotionalen Auf und Ab verbrachte.

Markus aber hat einen Psychiater aufgesucht und er überzeugt sich selbst, dass er die Sachen gut macht, denn die Psychopharmaka sollten ihm helfen. Denn die Depression ist nur eine weitere Krankheit, die behandelt werden muss, so wie Bluthochdruck, ein gesteigerter Cholesterinspiegel oder eine Schilddrüsenunterfunktion. Doch leider irrt sich unser Protagonist, weil Tabletten gegen den Schmerz des Lebens zwar helfen, sie allein ihn aber nicht beseitigen können. Eine Depression muss, wie viele andere psychische Störungen auch, von drei Seiten behandelt werden: Psychotherapie, ein Lebensplan und Unterstützung aus dem sozialen Umfeld.

Keine Motivation, großes Leid und unendliche Unwissenheit

Wir sind daran gewöhnt, zu hören, dass Leid Teil des Lebens sei und dass uns eine schmerzliche Erfahrung manchmal dazu verhelfen könne, stärker zu werden und persönlich zu wachsen. Dabei entgeht uns aber eine Tatsache, und zwar, dass es eine andere Art von Leid gibt, die plötzlich in unser Leben kommt, ohne Vorwarnung, wie ein frischer Wind, der uns unserer Motivation, Lebenslust und Energie beraubt.

„Eine Mauer um das eigene Leid zu bauen, bedeutet, Gefahr zu laufen, dass es uns von innen heraus zerfrisst.“

Frida Kahlo

Das existenzielle Leid ist das große Virus, das sich beim Menschen von heute ausbreitet. Man sieht es weder, noch kann man es anfassen, und dennoch richtet es einen verheerenden Schaden an. Eines Tages gibt eine Diagnose diesem Schaden einen Namen, man drückt uns einen weiteren Stempel auf und viele Gesundheitsexperten konzentrieren sich noch dazu zu sehr auf wissenschaftliche Modelle. Sie vergessen, dass jeder depressive Patient einzigartig ist, seine individuellen klinischen Merkmale aufweist, seine eigene Geschichte mitbringt und dass manchmal ein und dieselbe Strategie nicht für alle nützlich ist.

Wenn wir versuchen, eine Depression zu bekämpfen, stoßen wir darüber hinaus auf ein weiteres Problem. Vielerorts gibt es noch immer keine diagnostischen und therapeutischen Leitfäden. All das zeigt uns, dass psychische Gesundheitsprobleme nicht ausreichend anerkannt werden, obwohl eines bewiesen ist: 1 von 6 Menschen erkrankt mindestens einmal in seinem Leben an einer Depression.

Gleichzeitig kommt zu dieser manchmal nicht angemessenen Herangehensweise des Gesundheitswesens noch das zuvor erwähnte soziale Stigma hinzu. Es gibt interessante Daten, die in einem Artikel in der Zeitschrift Psychology Today  veröffentlicht wurden und uns zweifellos dazu bringen, uns unsere Gedanken zum Thema zu machen.

Wenn den Menschen erklärt würde, dass eine Depression ausschließlich neurobiologische Ursachen hat, gingen diese toleranter mit dem Thema um. Die Besuche bei Psychologen oder Psychiatern würden sich sogar häufen, denn die Menschen müssten nicht mehr davon ausgehen, dass es eine vermeintliche Schwäche ihrerseits sei, ein Zeichen fehlender Courage, weil sie sich von der Unlust und dem Leid haben verführen lassen.

Wie wir gesehen haben, ist die Unwissenheit noch immer sehr groß und bestimmte Krankheiten werden auch heute noch als Synonym für Verrücktheit, Schwächen oder Mängel, den es zu verstecken gilt, gesehen. Es ist die Zeit gekommen, anders mit diesen Schmerzen, die nicht eingegipst oder vernäht werden können, für die nicht alle 6 Stunden ein Tropf nötig ist, umzugehen und sie zu verstehen.

Wir dürfen Leid nicht länger abwerten und müssen lernen, es nachzuvollziehen, als aktive Beteiligte und vor allem als nahestehende Personen.

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Bildmaterial mit freundlicher Genehmigung von Samy Charnine


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.