Liebe Tochter, du musst kein „gutes Mädchen“ sein

Liebe Tochter, du musst kein „gutes Mädchen“ sein
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 15. November 2021

Liebe Tochter, du musst kein gutes Mädchen sein. Du musst kein Mädchen sein, das sich fügt, gehorsam und süß ist. Ich weiß, was du brauchst. Du sollst lernen, eine Stimme zu haben, nicht zu schweigen, lauthals zu lachen, zu rennen, auf jedes Sternbild mit dem Finger zu zeigen und dir vorzustellen, dass du nach jedem einzelnen greifen kannst. Liebe Tochter, niemand soll je zu dir sagen, dass du hässlich aussähst, wenn du wütend wirst. Niemand darf es wagen, dir deine Träume zu nehmen oder deine Identität zu verändern.

Etwas, das im Wesentlichen so logisch und notwendig erscheint, ist in vielen unserer Kontexte trotzdem weiterhin wie das Quietschen eines Türscharniers zu hören, das einige Menschen noch immer missachten, gewollt oder ungewollt. Hierfür habe ich ein einfaches Beispiel, das sich im Juni 2017 ereignete: Ein Kino in der belgischen Stadt Löwen organisierte einen Kinonachmittag nur für Frauen und zeigte Wonder Woman.  Diese Veranstaltung wurde von unzähligen Mädchen besucht. Sie alle wurden von dem sozialen Phänomen angezogen, das diese Figur schon bei den Kleinsten auslöst.

„Frieden kann man nicht finden, wenn man das Leben meidet.“

Virginia Woolf

Die Kinobetreiber beschlossen, den Frauen und Mädchen eine Tasche mit der Aufschrift „Cool things inside“ zu schenken. Das war eine gute Reklame, und der Kinosaal war, wie erwartet, prall gefüllt. In dieser geheimnisvollen Tasche voller vermeintlich cooler Dinge befand sich etwas, das man nur schwer wieder vergessen konnte. Als die weiblichen Kinobesucher die Tüte öffneten, fanden sie darin Topfreiniger, Glasreiniger, Diätpillen und eine Reinigungsbürste. Die Nachrichten darüber lösen bis zum heutigen Tag blankes Entsetzen aus und ziehen unzählige Kommentare und scharfe Kritik aus praktisch allen Bereichen der Bevölkerung nach sich.

Das sind Realitäten, die wir alle kennen. Das sind veraltete Klischees, Dinosaurierknochen, die von Zeit zu Zeit in unserer Gesellschaft auftauchen und auf die die meisten von uns reagieren. Doch wir sollten nicht ungesagt lassen, dass eine andere Art von verborgener, diskreter und unschätzbarer Realität existiert, die wir nicht so leicht sehen, weil sie unsere Sprache nährt, weil sie einen unsichtbaren Tanz in der Art aufführt, wie wir mit Mädchen und Jungen umgehen. Das prägt sie und uns fällt das nicht einmal auf.

Kein gutes Mädchen? - Mädchen spielt mit einem Schloss und Rittern

Das gute Mädchen, das stille Mädchen

Das gute Mädchen bleibt in einer Ecke, ohne sich zu bewegen, hört allem zu, was sie umgibt, aber bewahrt Stillschweigen. In ihrer Fantasie hingegen flieht das gehorsame Mädchen in ihre private, riesige und wilde Welt, wo sie tausend Abenteuer im Verborgenen, im Stillschweigen erlebt. Die anderen, die Erwachsenen, die an ihr vorbeigehen, loben ihre schöne Frisur, ihr Kleid und ihren aufmerksamen Blick. „Wie gut sie sich verhält“,  sagen sie zu ihren Eltern, aber ohne das Mädchen anzusprechen, ohne sie zu fragen, was sie liebt, was sie an ihrem Leben hasst, was sie gern liest, wovon sie träumt.

Wir wissen es nicht, doch fast von dem Moment an, an dem wir auf die Welt kommen, werden wir bewertet und uns wird ein Stempel aufgedrückt. Dieses Universum voller  willkürlicher Adjektive, voller Substantive der Verurteilung und unbesonnener Übertreibungen prägt sich bereits ab dem 9. Lebensmonat in unser Gehirn ein. Das mag uns sehr früh vorkommen, aber laut der „Verstehenstheorie“ sei es die Zeit, in der das Kind beginnt, soziale Verhaltensweisen zu verinnerlichen, in der es Verhaltensweisen imitiert und ebenso anfängt, das Verhalten der Erwachsenen nach und nach zu interpretieren.

Wenn wir die Passivität, den Gehorsam, das Stillschweigen und den Wert der körperlichen Erscheinung eines Mädchens bereits von Kindesbeinen an verstärken, werden wir viele angeborene Fähigkeiten untergraben oder nach unseren Vorstellungen verändern. Daher fordern bereits viele Psychologen, Pädagogen und Erzieher, die Wert auf Vielfalt legen, so wie Alfonso Montuoridass wir einen Erziehungsstil anwenden sollten, der frei von Urteilen und von geschlechtertypischen Merkmalen sei, bei dem die Förderung der Menschlichkeit und der angeborenen Gehorsamkeit des Kindes sowie die Wichtigkeit, Neues erlernen zu wollen und sich selbst zu kennen, im Vordergrund stünden. 

Zwei Mädchen schauen fern und werden aufgefordert, nicht selbstständig zu denken

Mein liebes Kind, du musst nicht „stark“ sein

Wir haben vom „guten Mädchen“ gesprochen, von diesem kleinen Mädchen, das die Welt stillschweigend betrachtet. Jetzt ist es an der Zeit, an die vielen Kinder zu denken, die sich schon wie Erwachsene verhalten, die früh mithilfe dieses odontologischen Instruments erzogen wurden, das sich emotionale Beherrschung und Selbstkontrolle nennt. Hierbei werden Emotionen und Sensibilität korrigiert wie krumme Zähne, die so früh wie möglich gerade gebogen werden sollen.

Tränen sind beispielsweise nur etwas für Mädchen und deshalb soll ein Junge so bald wie möglich lernen, sie zu unterdrücken. Denn er muss stark sein, wie ein Superman  ohne Umhang, dem nichts etwas anhaben kann und dem alles gelingt.

„Die Zukunft gehört denen, die an die Schönheit ihrer Träume glauben.“

Eleanor Roosevelt

In der Welt der Jungen gibt es ebenfalls festgefahrene Klischees, die wir ausfindig machen und mit denen wir angemessen umgehen sollten. Und um eine Erziehung zu rechtfertigen, die stets die Entwicklung des Kindes und die Gleichberechtigung als Grundlage hat, möchten wir auf eine vor Kurzem veröffentlichte Studie verweisen, die etwas belegt, was alle Eltern und Erzieher bedenken sollten: Das Gehirn eines Jungen ist wesentlich sensibler als das eines Mädchens, ist anfälliger für Stress und braucht daher eine Erziehung, bei der der Fokus auf gestärkten Emotionen, Sicherheit und Geborgenheit während der Kindheit liegt.

All das sollte uns dazu bewegen, darüber nachzudenken, welche Klischees wir manchmal im alltäglichen Umgang mit Kindern auf sie übertragen. Sätze, wie „du musst ein gutes Mädchen/ein guter Junge und perfekt sein“  oder „Jungs weinen nicht“  können über das spätere Verhalten von Kindern entscheiden, was sie dazu verdammt, aus diesem schwarzen Loch der Frustration und Unzufriedenheit keinen Ausweg zu finden.

Doch interessanterweise ist es auch so, dass es mittlerweile viele Experten auf dem Gebiet des persönlichen Wachstums gibt, die Frauen trainieren, damit sie in verschiedenen Lebensbereichen, sei es auf sozialer, politischer oder wirtschaftlicher Ebene, zu Führungskräften werden können, wenn sie es möchten.

Frau mit Blumen im Gesicht

Etwas, dass all diese Frauen verspürt haben, so wie auch im Falle der bekannten Trainerin Bonnie Marcus, ist, dass Frauen, die eine höhere Position in der Politik oder in einem Unternehmen anstreben, sich zu Beginn als eine „egoistische Person“ fühlen. Mit diesem Denkmuster zu brechen, um ihnen zu zeigen, dass es keinesfalls egoistisch, sondern ihr gutes Recht ist, für das zu kämpfen, was sie wollen, ist zweifellos schwierig. Denn gut zu sein, bedeutet nicht, sich zu fügen oder konformistisch zu sein. Gut zu sein, heißt in Wahrheit, mutig zu sein, weil man seine Träume erreichen möchte, ganz gleich ob als Mann oder als Frau.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.