Aus dem Fenster schauen: Eine großartige Übung in Reflexion und Introspektion

Aus dem Fenster schauen: Eine großartige Übung in Reflexion und Introspektion
Valeria Sabater

Geschrieben und geprüft von der Psychologin Valeria Sabater.

Letzte Aktualisierung: 13. März 2023

Aus dem Fenster zu schauen und den Blick nach draußen wandern zu lassen, ist keine Zeitverschwendung. Manchmal, wenn unser Blick so in die Ferne schweift, versuchen wir gar nicht, unsere Umwelt genau zu beobachten. Stattdessen versuchen wir, zu reflektieren, um unseren Blick auf uns selbst zu richten. Wir nutzen den Blick aus dem Fenster zur Introspektion und Reflexion. Tatsächlich gibt es nur wenige Übungen, die so gesund für unsere Psyche sind.

Wenn wir mit der Arbeit von Edward Hopper vertraut sind, erinnern wir uns bestimmt an die Bilder, die eine einsame Frau zeigen, die aus einem Fenster blickt. In manchen schaut die Frau aus dem Fenster eines Hotelzimmers oder eines Cafés. Das Motiv aber ist immer das gleiche: Der Blick der Frau schweift in die Ferne und ihre Gedanken scheinen meilenweit von dem Raum entfernt zu sein, in dem sie sich befindet.

“Es ist nicht immer einfach, zwischen Nachdenken und dem Blick aus dem Fenster zu unterscheiden.”

Wallace Stevens

Nicht viele Bilder sind so geheimnisvoll wie die von Hopper. Was betrachten die Frauen auf den Bildern? Die Antwort ist einfach: alles und nichts. Hopper war ein Experte darin, Stimmungen und Atmosphären auf seinen Bildern festzuhalten. Er war in der Lage, schwer zu definierende Emotionen zu vermitteln. Licht, Formen, Farben – er nutzte die unterschiedlichsten Techniken, um uns auf einen bestimmten Weg der Interpretation zu lenken. Deswegen malte er so oft Fenster in die Nähe seiner Figuren.

Fenster sind wie Tore zu unserem Verstand. Sie sind eine unverzichtbare Ressource für viele Träumer in unserer Welt. Sie sind auch wichtig für Menschen, die nach einem stressigen Tag eine Pause brauchen, und vielleicht ihren Kopf gegen das Fensterglas einer U-Bahn lehnen, wenn sie auf dem Weg nach Hause sind. Denn das sind die Momente, in denen wir anfangen, zu träumen. Wir nehmen uns selbst die Freiheit, Erleichterung in einem stressigen Alltag zu finden und tun so etwas Gutes für uns.

Ein Gemälde von Edward Hopper, das eine Frau zeigt, die auf einem Bett sitzt und gedankenverloren durch ein Fenster blickt.

Aus dem Fenster schauen: eine Übung der Introspektion

Wenn wir in eine beliebige Schule gehen, werden wir sicherlich einen Schüler finden, der aus dem Fenster schaut. Solche Schüler sind oft geistig abwesend und isoliert von ihrer Umgebung. Zur gleichen Zeit sind sie mit ihrer Innenwelt und ihren Tagträumen verbunden. Und anstatt dieses Verhalten im fortgeschrittenen Alter abzulegen, geben sie sich dieser Beschäftigung mit immer mehr Begeisterung hin. Aber das heißt nicht, dass es nun als positiv betrachtet würde.

Aus dem Fenster zu schauen gilt als gleichbedeutend mit Unproduktivität. Für die Gesellschaft bedeutet es, dass wir im gegenwärtigen Moment nicht da seien, dass wir gerade verantwortungslos handeln. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum wir unseren Gedanken wahrscheinlich nicht oft gestatten, abzuschweifen, und uns nicht den Blick auf uns selbst erlauben.

In einer Gesellschaft, die so auf Leistung fokussiert ist, ist Introspektion ein großes Problem, weil wir uns dann nicht mehr bewegen, wir nicht mehr produktiv sind und uns auch nicht mehr darstellen. Vielleicht ist es deshalb so, dass die meisten von uns lieber aus dem Fenster schauen, wenn sie allein sind? Wenn wir aus dem Fenster schauen, ist unser Ziel eben nicht, unsere Umwelt zu beobachten, und noch viel weniger, unsere Produktivität zu steigern.

Der Prozess ist vergleichbar mit der Heimreise. Wir sind mit der Umgebung schon vertraut, weil wir die Strecke schon einmal gefahren sind. Wir wissen, dass draußen Verkehr herrscht, dass sich Massen von Menschen in einer Stadt bewegen und dabei in ihren Routinen gefangen sind … Aber wenn wir aus dem Fenster schauen, dann hält uns unser Gehirn wir ein Anker in den Tiefen unseres Bewusstseins. Dies ist ein Ort, an dem wir diese erstaunliche Übung ausführen können, die gut für unsere psychische und emotionale Gesundheit ist.

Ein Mann starrt aus einem Flugzeugfenster.

Wir leben in einer von Produktivität besessenen Welt, das ist uns bewusst. Vielleicht haben deshalb so viele Menschen das enorme Potenzial des Tagtraumes vergessen. Manchmal fallen uns die kreativsten Ideen ein oder wir treffen die besten Entscheidungen, während wir aus dem Fenster blicken. Fast ist es so, als ob unser Geist rebellierte und uns dazu brächte, etwas anderes zu tun. Auch scheint es uns, als würden wir mit unserem weisesten, aber verborgenen Selbst in Kontakt treten und darauf hören, was es uns zu sagen hat.

Das Fenster: Der Platz, der uns zum Träumen einlädt

Psychologen wie Scott Barry Kaufman und Jerome L. Singer, die Experten im Bereich der Kreativität sind, sprechen über dieses Thema in einem Artikel der Psychology Today.  Diese Experten behaupten, dass Tagträumen in der heutigen Welt immer noch mit einem großen Stigma behaftet sei. Schon wenn wir eine halbe Stunde lang aus dem Fenster schauen, anstatt an unserem Computer zu arbeiten, gelten wir als faul.

Die beiden Psychologen haben dazu eine Studie angestellt. Sie fanden heraus, dass 80 % der befragten Unternehmen der Meinung sind, die Kreativität ihrer Mitarbeiter durch kontinuierliche Arbeit und Aktivität steigern zu können. Wer sich also eine Pause gönnt, um sich einen Kaffee zu holen und aus dem Fenster zu starren, der könnte mit dem Stress auf der Arbeit schlicht nicht umgehen und wäre unproduktiv.

In unserer heutigen Welt verbinden wir Bewegung stets mit Leistung und Passivität mit Faulheit. Aber wir sollten diese überholte Betrachtungsweise ablegen. Tagträumen bedeutet, all die verborgenen Wunder, die sich in unserem Geist befinden, aufzuspüren. Es bedeutet, unseren Geist durch Introspektion, Neugierde, Symbolik und Vorstellungskraft noch weiter wachsen zu lassen.

Ein Mädchen schaut aus einem Fenster.

Einer der besten Plätze, um dieses verborgene Potenzial auszuschöpfen, ist vor einem Fenster. Der Blick in die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkt des Tages ist wie ein Termin mit uns selbst. So übertreten wir die Schwelle in jene innere Welt, die so viele von uns vernachlässigen. In eine Welt, um dir wir uns nicht kümmern, die wir nicht besonders pflegen, weil die Außenwelt zu viel von uns verlangt. Die heutige Gesellschaft möchte, dass wir zu jeder Zeit Leistung zeigen und auf all die endlosen Reize konzentriert sind, die auf uns einprasseln.

Wir sollten lernen, unsere eigenen Grenzen abzustecken und hin und wieder vor einem Fenster zu sitzen. Schauen wir auf die Reflexion im Fensterglas, wo wir unsere Träume, unsere innere Schönheit und eine Welt voller Möglichkeiten finden können.


Dieser Text dient nur zu Informationszwecken und ersetzt nicht die Beratung durch einen Fachmann. Bei Zweifeln konsultieren Sie Ihren Spezialisten.